Daniel Koch hat die erste Phase der Pandemie geprägt. Nun sagt der Berner, wieso er die Aufhebung der Massnahmen für vertretbar hält. Und geht mit sich selbstkritisch ins Gericht.
Daniel Koch, ist es richtig, am nächsten Freitag sämtliche Corona Massnahmen aufzuheben?
Ob richtig oder nicht richtig, ist immer schwierig zu beantworten. Aus epidemiologischer Sicht werden diese letzten Lockerungsschritte kaum mehr ins Gewicht fallen. Man macht nun den endgültigen Schritt zurück in die Normalität. Die Situation ist momentan ja: hohe Fallzahlen, gleichzeitig nur wenige schwere Erkrankungen.
Aber eben: Es gibt sie, die Spitaleinweisungen.
Ja, namentlich ältere Menschen bekunden deutlich häufiger Probleme, da ihr Immunsystem oft nicht mehr so gut funktioniert. Für sie kann das Virus nach wie vor gefährlich sein. Es wird in Zukunft vor allem darum gehen, diese Leute zu schützen
Etliche Personen leiden an Long Covid. Was weiss man über diese Folgeerscheinungen?
Noch zu wenig. Es braucht Zeit, bis genug Daten vorhanden sind, um in etwa abschätzen zu können, wie sich Long-Covid-Erkrankungen entwickeln.
Nochmals: Ist es angesichts dieser Problematik sowie der aktuell steigenden Zahl von Spitaleinweisungen legitim, ab 1. April auf sämtliche Schutzmassnahmen zu verzichten?
Die Frage ist folgende: Können wir überhaupt verhindern, dass das Virus zirkuliert? Die Antwort ist Nein. Es reicht ein Blick in andere Länder wie Südkorea oder Neuseeland, jene Staaten also, die eine Zero-Covid-Strategie gefahren haben. Dort explodieren die Fallzahlen derzeit regelrecht. Sich der Illusion hinzugeben, die Ausbreitung verhindern zu können, wäre völlig falsch.
Also ist die Pandemie, zumindest in der Schweiz, ab dem genannten Datum offiziell beendet?
Genauso wenig, wie man sagen kann, wann eine Pandemie beginnt, kann bestimmt werden, wann sie zu Ende ist. Das Pandemiegeschehen wird noch eine Weile weiterlaufen. Was Europa anbetrifft, lässt sich jedoch festhalten, dass sich die akute Phase dem Ende zuneigt – was nicht heisst, das Problem einfach ad acta legen zu können. Es gilt nun wie gesagt darauf zu achten, wie wir vulnerable Personen schützen. Das sollte allerdings nicht mehr mit Massnahmen passieren, die zu stark ins Privatleben der Bevölkerung eingreifen.
Ein erneuter Lockdown kann auch in Zukunft nicht komplett ausgeschlossen werden?
Wir müssen jetzt analysieren, welche Massnahmen wirklich Sinn gemacht haben. Fest steht: In der Zeit vom Herbst 2020 bis weit in den Frühling 2021 bekundeten wir die grössten Probleme. Ich glaube kaum, dass noch schärfere Eingriffe die Situation deutlich verbessert hätten.
Verschiedene Studien kommen zum Schluss: Die Schweiz hat die Pandemie recht gut gemeistert.
Das epidemiologische Geschehen hängt von zahlreichen Faktoren ab: Klima, Familienstrukturen, kulturelle Unterschiede und so weiter. Doch es gibt tatsächlich Dinge, die sich vergleichen lassen, ich denke da namentlich an die Übersterblichkeit: Diesbezüglich ist die Schweiz tatsächlich gut davongekommen, obschon andere Länder es nochmals besser gemacht haben.
Welche?
Dänemark zum Beispiel. Dort wurde von Anfang an viel häufiger getestet. Positive Kontakte wurden verfolgt, anstatt die Leute in Quarantäne zu stecken. Zudem hat die hohe Durchimpfungsquote zahlreiche schwere Fälle verhindert.
Apropos Quarantäne: Mit der Aufhebung der Massnahmen wird zudem ab 1. April die Isolationspflicht von Erkrankten hinfällig.
Das halte ich für vertretbar. Mein Rat: Machen Sie bei Symptomen einen Test – wenn Sie positiv sind, bleiben Sie möglichst daheim und probieren Sie, niemanden anzustecken. Langfristig wären Isolation und Quarantäne sowieso kaum durchsetzbar. Auch deshalb, da diese Regelung viele davon abhält, sich testen zu lassen, weil dann beispielsweise der ganze Fussballklub zuhause bleiben muss.
Abschaffung der Isolation damit wird das Signal ausgesendet: Das Virus ist nicht mehr gefährlich.
Am wahrscheinlichsten ist, dass Covid-19 noch besser übertragbar sein wird – aufgrund des natürlichen Selektionsdrucks. Die Natur bevorzugt Mutationen, die sich besser ausbreiten können, meist aber auch weniger gefährlich sind. Aus Sicht des Virus ist dessen Mortalität kein Gewinn. Allerdings dürfte es, ähnlich wie bei der Grippe, zu saisonalen Schwankungen kommen: Gewisse Varianten werden aggressiver sein, andere weniger. Es sieht derzeit stark danach aus, als ob sich Covid-19 in Richtung eines normalen Erkältungsvirus entwickelt, das hauptsächlich in den kalten Wintermonaten zirkuliert.
Stimmt die These, wonach die Herdenimmunität in der Bevölkerung kein Thema mehr ist, weil Omikron so milde verläuft, dass erneute Erkrankungen gar nicht verhindert werden können?
Der Begriff Herdenimmunität war von Anfang an unpassend. Von einer solchen ist nur die Rede, wenn der Schutz lange anhält, was bei respiratorischen Viren wie Corona kaum je der Fall ist. Was man hingegen beobachtet: Je mehr Menschen Abwehrkräfte gegen Corona aufbauen – sei es durch eine Ansteckung oder durch die Impfung, umso weniger stark erkranken sie daran. Das nennt man Teilimmunität.
Nach rund zwei Jahren Pandemie: Wie beurteilen Sie die Arbeit der Corona-Taskforce?
Eine schwierige Frage. Dass es wissenschaftliche Inputs benötigte, ist selbstverständlich. Unglücklich fand ich, solche Institutionen mitten in einer Krise ins Leben zu rufen – besser wäre gewesen, auf bestehende Strukturen zurückzugreifen, etwa, die ausserparlamentarische Pandemiekommission mit Experten aus der Wissenschaft zu ergänzen. Bei der wissenschaftlichen Covid-Taskforce, die Sie ansprechen, kamen mir persönlich diverse Aspekte zu kurz. Der Praxis wurde zu wenig Beachtung geschenkt, Infektiologinnen und Infektiologen waren zu wenig involviert.
Und welches Zeugnis stellen Sie sich selbst aus?
Selbstverständlich hoffe ich, dass meine Arbeit ebenfalls evaluiert wird. In der ersten Welle, in der ich in der Verantwortung war, haben wir einige Dinge nicht gut gelöst. Was ich am meisten bedaure, ist der Umgang mit den Alters- und Pflegeheimen. Dort wurden zahlreiche Menschen quasi einfach eingeschlossen; das hätte nicht passieren dürfen. Wir haben die Heimleitungen zu wenig unterstützt. In der Folge entstand manch unnötiges Leid. Die Idee, verletzliche Personen komplett abzuschirmen, funktioniert nicht. Selbst wenn wir eine Übertragung verhindern können, leiden die Betroffenen zu stark unter der Isolation.
Das Pflegepersonal bewegt sich ja schliesslich nicht bloss im Heim, sondern geht nach Hause und kann das Virus von draussen reinschleppen.
Richtig. Oder ein anderes Beispiel: In der ersten Welle schlossen zig Länder ihre Grenzen. Als würde das Virus dort Halt machen. Gleichzeitig fuhren täglich Tausende Lastwagen und Züge dort durch. Das war absurd.
War es nicht trotzdem sinnvoll, zu Beginn der Pandemie auf Abschottung zu setzen, da über Corona noch kaum etwas bekannt war?
Selbstverständlich erwies sich eine Reduktion der persönlichen Kontakte als sinnvoll. Genauso wie die Schliessung von Bars und Beizen. Doch nicht alles, was verordnet wurde, hatte eine echte Notwendigkeit. In der ersten Welle war denn auch die Zahl der Hospitalisationen verhältnismässig tiefer als in der zweiten. Wir sollten die Menschen bei einem möglichen nächsten Mal noch besser informieren, statt auf polizeiliche Zwangsmassnahmen zu setzen.
Insgesamt können wir aber schon aufatmen?
Ja, absolut.
Lag Ihre eigene Aufmerksamkeit in den letzten Wochen eigentlich nach wie vor auf Corona oder doch eher beim Thema Ukraine?
Mir geht der Krieg in der Ukraine genauso nah wie Corona, auch weil ich 15 Jahre lang für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz gearbeitet habe und in vielen Krisengebieten unterwegs war. Und man darf eine Pandemie nie mit einem Krieg vergleichen: Das Virus ist eine Naturkatastrophe, da kann niemand etwas dafür.
Yves Schott