Immunologie-Professor Beda Stadler ärgert sich über den Begriff «Neuinfektionen» und erklärt, wieso niemand zweimal am Coronavirus erkranken kann.
Herr Stadler, im Juni schrieben Sie in der «Weltwoche», die Zahlen würden im Winter wieder steigen. Sie lagen falsch – die Zahlen steigen bereits seit Wochen.
Moment: Von welchen Zahlen reden wir genau?
Von laborbestätigten Fällen.
Zu Zeiten von Daniel Koch wäre diese Aussage korrekt gewesen. Mittlerweile spricht das BAG hingegen von laborbestätigten Infektionen. Und das ist falscher als falsch. Ich kenne keinen Wissenschaftler auf dieser Welt, der den PCR-Test (s. Box) als Infektionsnachweis gelten lassen würde. Verstehen Sie mich nicht falsch: Der Test an sich ist schon in Ordnung.
Was sagt der Test denn aus?
Dass diese bestimmte Person mit dem Virus in Kontakt kam. Da die meisten Schweizerinnen und Schweizer gegen das Coronavirus allerdings sowieso immun sind und Antikörper gebildet haben, ist der Erreger beim Test bereits in die Schranken gewiesen worden. Zum Vergleich: Sie können jahrelang Herpesviren in sich tragen, ohne dass die Krankheit ausbricht. Ausserdem ist derzeit in Europa ein neuer Stamm Coronaviren unterwegs, der dafür sorgt, dass die Fallzahlen zwar ansteigen, die Leute aber kaum krank werden. Deswegen sind die Spitalbetten leer.
Dieser Aussage wurde in der Talksendung «Hart, aber fair» klar widersprochen. Wissenschaftsjournalistin Julia Fischer meinte, die Zahl liege so tief, weil sich derzeit vorwiegend junge Menschen anstecken.
(Schmunzelt) Das Virus unterscheidet nicht zwischen Jungen und Alten. Es springt einfach auf den nächsten Menschen. Was mich generell erstaunt, ist, dass zum ersten Mal überhaupt der Feldversuch weniger stark gewichtet wird als das Laborexperiment. Sehen Sie: Masken saugen gewisse Tröpfchen auf, dafür hätte es keine Studien benötigt. In Argentinien andererseits steigen die Zahlen seit rund fünf Monaten kontinuierlich an – trotz Maskenpflicht und komplettem Lockdown. In keinem Land dieser Erde sanken die Zahlen wegen der Maskenpflicht.
Wenn es nicht die Masken sind, die die Zahlen zum Sinken bringen – was dann?
Bei uns flachte die Kurve bereits vor dem Lockdown ab. Schweden verzeichnete fast drei Viertel aller Todesfälle zu Beginn der Epidemie. Die Regierung entschuldigte sich danach, die vulnerablen Personen zu wenig geschützt zu haben. Genau das hatte ich von Anfang an gesagt: Schützt die Risikogruppen und lasst die anderen in Ruhe! Doch dafür wurde ich ausgelacht. Denn die Modelle sämtlicher Epidemiologen basierten darauf, dass die Menschen vom Virus gleichermassen angesteckt werden. Bloss waren die Kinder samt und sonders immun. Noch etwas zu Ihrer vorigen Bemerkung: Für Afrika wurden apokalyptische Szenarien gezeichnet, die nie eintrafen. Die Erklärung ist eine traurige: Die Risikogruppen, also ältere Personen, sind aufgrund der Armut schon eliminiert. Afrika hat eine sehr junge Bevölkerungsstruktur und deshalb weniger Probleme.
Zurück in die Schweiz: Herr Stadler, den Lockdown brauchte es doch schon nur darum, um die neue Situation in die Köpfe der Menschen zu bringen.
Gegenfrage: Wer ist vor allem am Virus gestorben?
Ältere Menschen.
Richtig. Und wo wohnen diese? Hauptsächlich in Altersheimen. Deswegen war mein Argument von Anfang an, Risikopatienten konsequent zu schützen. Wir hatten zunächst eine klare Übersterblichkeit, nun verläuft die Kurve am unteren Rand.
Ja, weil wir die Hygieneregeln befolgen!
Gegen Social Distancing habe ich nichts, das ist die beste Massnahme überhaupt, denn das Virus springt von Mensch zu Mensch. Ein Lümpchen vor dem Gesicht hingegen nützt nur wenig. Doch wir müssen über den Beginn der Pandemie reden.
Gerne.
Die ersten Virussequenz, die wir in Europa untersuchten, war logischerweise jene aus China. Man las die Daten also ein und sah, dass es sich um ein Coronavirus handelte. Vom gesamten Genom besteht aber nur ein Teil aus SARS-CoV-2, alles andere ist genau gleich wie bei den üblichen Coronaviren. Wieso damals niemand erkannt hat, dass hier eine gewisse Immunität vorherrschen sein muss, erstaunt mich. Ich habe den Podcast des deutschen Virologen Christian Drosten sehr geschätzt – bis er über Immunologie zu sprechen begann. Mir standen die Haare zu Berge! Er brüstete sich damit, als Erster über einen Antikörpertest zu verfügen. Doch dieser Test wurde für das SARS-Virus von 2003 entwickelt – und trotzdem erkannte er SARS-CoV-2. Verstehen Sie jetzt, wieso man nie mehr von einem neuen Virus reden sollte?
Dieses Argument ist Balsam auf die Seele von Verschwörungstheoretikern.
Der Begriff «neu» wird falsch verwendet. Man hätte es so formulieren müssen: Das Coronavirus ist teilweise verwandt mit bekannten Erkältungsviren. Wenn zudem ein Grossteil der Bevölkerung keine Symptome zeigt, sollte man nicht mehr davon reden, für andere ansteckend zu sein. Wenn Sie sich impfen lassen und keine Reaktion darauf zeigen, würde ich mir Sorgen machen. Es gibt keine Infektion ohne Entzündung!
Damit widersprechen sie Ihren Wissenschafts-Kollegen deutlich.
Immun sein heisst, dass ein Erreger Zellen infizieren kann, ohne Symptome zu verursachen. Das ist aber keine Infektion. Sonst würden sie von jedem Glas Wasser krank! Klar kann bei Leuten, die immun sind, das Virus tage- oder sogar wochenlang nachgewiesen werden. Nur gewinnt es nicht die Oberhand. Daher spricht man von einer Inkubationszeit von bis zu 22 Tagen. Wird jemand danach krank, hat sein Immunsystem den Kampf gegen das Virus verloren – und er oder sie wies in dieser Zeit garantiert Symptome auf.
Was ist mit den Tausenden von Menschen, die sich in der Schweiz angesteckt haben?
Immunität ist kein Ja oder Nein. Man hat mehr oder weniger davon. Junge Menschen mit schweren Immunerkrankungen können am Coronavirus sterben, natürlich, aber das ist äusserst selten.
Was ist mit jenen, die nach überstandener Erkrankung von einer eingeschränkten Lungenfunktion oder dauerhaftem Geschmacksverlust berichten?
Jedes Bakterium, das eine heftige Lungenentzündung auslöst, verursacht Schäden, die sich kaum in einer Woche heilen lassen.
Zu reden geben momentan Meldungen, wonach Menschen mehrfach krank werden können.
(Unterbricht) Nein, das ist ein Märchen! Es kann sein, dass jemand viermal positiv getestet wird. Zweimal krank werden – ausgeschlossen, da die Person Antikörper gebildet hat.
Wie lautet Ihre Corona-Prognose?
Meiner Meinung nach müsste ein zweiter PCR-Test eingeführt werden, der den neuen Virenstamm entdeckt. Jedem, der sich mit der neuen Form angesteckt hat, könnte man sagen: Der ist harmlos, du darfst ruhig noch andere anstecken, weil du zur Herdenimmunität beiträgst.
Wird uns ein Impfstoff retten?
Das BAG rät seit Jahren dazu, dass sich Risikogruppen gegen Grippe impfen sollen. Weil aber ihr Immunsystem geschädigt ist, werden sie auch auf den Impfstoff nicht reagieren. Dasselbe Spiel nun beim Coronavirus. Impfen sollten sich stattdessen jene, die andere unfreiwillig anstecken können, sprich: Gefängniswärter, Pflegepersonal, Polizisten, Lehrer. Ich will ja nicht kränker aus dem Spital kommen als ich reingegangen bin. (lacht)
Wenn Sie ganz alleine entscheiden könnten: Wie würde Ihre Corona-Strategie aussehen?
Ich würde sämtliche Massnahmen zurückfahren und gleichzeitig präzise erklären, dass man gewisse Dinge derzeit lassen sollte: Menschen beim Begrüssen küssen beispielsweise, Händeschütteln. Zweitens: Grossanlässe zulassen, aber Freiräume schaffen, damit man nicht zu fest aufeinandersitzt. Drittens deutlich machen, dass es draussen ungefährlich ist. Mit Masken im Bahnhof rumlaufen bringt schlicht nichts! Viertens: Jenen, die Angst haben, eine neue und günstige Art von Masken zur Verfügung stellen, damit sie beruhigt sind. Fünftens: ein Sorgentelefon für die Verunsicherten.
Sind Sie eigentlich enttäuscht, nicht zur Taskforce des Bundes zu gehören?
Im Gegenteil. Ich wurde ja sogar angefragt, doch ich bin Risikopatient: Vor einem Jahr hatte ich eine doppelte Lungenembolie, ausserdem bin ich übergewichtig. Stellen Sie sich vor, ein Journalist würde mich sehen und danach schreiben: Alle sollen zuhause bleiben, doch der dicke Stadler ist mit dem Bundesrat unterwegs! Andererseits sagte ich ab, weil ich zu Beginn wirklich Angst hatte.
Wegen der schlimmen Bilder aus Italien?
Ja, ich fiel ebenfalls darauf rein. Intubierte Menschen, die auf dem Bauch liegen. Die gab es, zweifellos, aber es handelte sich um Einzelfälle.
Wann dürfen wir uns wieder umarmen und küssen?
Nicht ganz zufälligerweise hatten mit Spanien und Italien jene beiden Länder, in denen dieses Ritual am stärksten praktiziert wird, am Anfang die grössten Probleme. Vielleicht werden wir zu anderen Begrüssungsformen finden. In Japan küsst sich auch niemand zur Begrüssung.
Die Konsequenz aus der HIV-Epidemie in den 80er-Jahren war das Kondom, die Konsequenz aus der Corona-Krise ist das Abstandhalten bei der Begrüssung?
Ein schöner Vergleich. Denn wer sieht, wie die Menschen die Masken tragen, versteht auch, wieso die Verhütung nicht funktioniert. (lacht)
Yves Schott