Polizeidirektor Reto Nause hält an seiner Warnung fest: Nein, Bettlern aus Osteuropa solle man in Bern kein Geld geben. Den Vorwurf, der Aufruf sei diskriminierend, findet er unpassend.
Reto Nause, welche Bedeutung misst die Stadt Bern dem Kampf gegen die illegale Bettelei, Menschenhandel und Schwarzarbeit zu?
Er hat oberste Priorität und ist auch in den Legislaturzielen des Gemeinderats verankert. Einerseits schauen wir im regulären Wirtschaftssektor genau hin – übrigens zusammen mit den Gewerkschaften, die extrem daran interessiert sind, diese Ausbeutungen zu bekämpfen. Wir nehmen sogenannte Verbundkontrollen vor in für solche Systeme anfälligen Betrieben wie Nailshops, Barberläden oder in der Gastronomie. Dort stellen wir immer wieder fest, dass Personen ohne Arbeitsvertrag und -bewilligung arbeiten. Das bedeutet: Sie erhalten keinen oder nur einen Hungerlohn. Zudem werden jene Leute häufig in prekären Verhältnissen untergebracht. Nicht selten leben sie zu acht in einer Zweizimmerwohnung.
In Bern?
Ja, in Bern. Die Tendenzen sind beängstigend, es vermischen sich Schattenwirtschaftsstrukturen mit regulären Wirtschaftskreisläufen.
Und der zweite Punkt?
Ein anderer Auswuchs dieser Ausbeutungsstrukturen ist die organisierte Bettelei, deren Opfer vornehmlich aus Rumänien und Bulgarien stammen. 2008 starteten wir das Projekt Agora, weil die Bettelei im Strassenbild damals sehr virulent war.
Was fiel Ihnen auf?
Es wurde schnell deutlich, dass Menschen mit Kleinbussen auf die Schützenmatte gefahren wurden. Danach erhielten sie einen Stadtplan mit dem Hinweis, wo sie sich postieren sollen – meistens logischerweise an gut frequentierten Orten. Auf einer nächsten Hierarchiestufe agieren die sogenannten Läufer: Sie tun nichts anderes, als die platzierten Menschen aufzusuchen und ihnen das erbettelte Geld wieder abzunehmen. Mit dieser Methode lassen sich übrigens mehrere hundert Franken pro Person generieren. Die dritte Stufe ist dann irgendein Clan-Oberhaupt, das irgendwo weit entfernt wohnt und vom Geld profitiert.
Nun riefen Sie letzten Herbst die Bevölkerung dazu auf, solchen Personen kein Geld zu geben.
Wer ihnen aus gut gemeinten Motiven helfen möchte, bewirkt damit leider eine fast schon perverse Umkehr: Denn je mehr Geld ins System reinfliesst, desto mehr Leute werden rekrutiert und desto mehr werden in diese Menschenhandelsstrukturen gezwungen. Beim Projektstart von Agora wurden übrigens häufig unbegleitete Minderjährige fürs Betteln eingesetzt. Dank der Zusammenarbeit mit den Botschaften von Rumänien und Bulgarien gelang es zum Glück relativ oft, diese Jugendlichen von der Gasse zu holen und sie in ihren Heimatländern in sichere Strukturen zurückzuführen. Dieses Phänomen treffen wir nur noch äusserst selten an – wahrscheinlich eben darum, weil registriert wurde, dass junge Leute relativ schnell von uns aufgegriffen werden. 2008 trafen wir auch bettelnde Mütter mit Kleinkindern oder Säuglingen an, bei denen wir nachweisen konnten, dass diese gar nicht ihre leiblichen Kinder sind. Uns wird immer wieder vorgeworfen, dass diese organisierten Strukturen nicht wissenschaftlich bewiesen seien. Das kann sein, aber solche Erkenntnisse sprechen eine deutliche Sprache.
Ein Bündnis von links-grünen Stadträten kritisierte Ihre Weisungen jüngst als diskriminierend.
Man kann das diskriminierend oder sogar rassistisch nennen – aber Bern hat ganz bewusst und auch politisch breit abgestützt nie ein generelles Bettelverbot ausgesprochen. Der Aufruf richtet sich eindeutig gegen organisierte Banden. Um es klipp und klar zu sagen: Wir reden hier von Opfern eines organisierten Systems, im Gegensatz zu Berner Bettlern, die wir relativ gut kennen und denen ich selber immer mal wieder einen Batzen in die Hand drücke.
Im Zweifelsfall sollte man also einem Bettler in Bern kein Geld geben?
Wenn Sie auf Berndeutsch angesprochen werden, können Sie guten Gewissens etwas spenden. Ansonsten ist die Gefahr riesig, der betreffenden Person etwas Gutes tun zu wollen, aber Schlechtes zu bewirken.
Nochmals: Haben die links-grünen Stadträtinnen und Stadträte mit ihrer Haltung nicht doch ein bisschen recht? Die Gefahr einer Pauschalisierung besteht, wenn Sie generell vor Bettlern warnen.
Sehen Sie: Es handelt sich hier nicht um Personen, die aus Osteuropa fliehen müssen oder vertrieben wurden – nein, sie werden bewusst für dieses Business rekrutiert. Es gab übrigens auch Fälle von Menschen mit Verstümmelungen, die absichtlich verletzt wurden, um damit Mitleid zu erzeugen – so pervers das tönen mag.
Also schiesst die Kritik übers Ziel hinaus?
Ich verstehe die Intention, solchen Leuten helfen zu wollen. In diesem Kontext die Rassismus-Keule zu schwingen, ist allerdings definitiv deplatziert. Wüssten die Motionäre, wie die wahren Clan-Strukturen aussehen, müssten sie unser Vorgehen eigentlich klar befürworten.
Ist Betteln in Bern eigentlich legal?
Ja. Doch selbst als EU-Bürgerin oder -Bürger wird ein Nachweis benötigt, der den eigenständigen Lebensunterhalt bestätigt. Und Betteln ist ja gemäss Bundesgerichtsentscheid keine Arbeit.
Wie würden Sie die Bettelsituation generell beurteilen?
Die Lage ist angespannter als auch schon. Das Phänomen taucht phasenweise auf. Vor Weihnachten ist es jeweils auffällig wahrnehmbar, derzeit stellen wir erneut eine hohe Präsenz fest. Worauf es zurückzuführen ist, lässt sich nicht eindeutig sagen.
Basel zum Beispiel geht anders mit Bettelnden um und hat angefangen, Notschlafstellen und Essensabgaben für diese Personen zu errichten.
Und was ist der Effekt? Es kommen immer mehr Leute. In Basel wurden zeitweise ganze Parks als Übernachtungsmöglichkeiten genutzt. Ausserdem wird die Hilfestellung von Nahrung und Obdach von den Betroffenen ganz vehement verweigert.
Wie gehen Sie denn konkret gegen die Banden vor?
Mit gezielten Kontrollen, teilweise bereits bei Ankunft der Kleinbusse. Jede Stunde, in denen die rekrutierten Opfer nicht auf der Gasse stehen müssen, zählt. Bei den Verbundkontrollen in Betrieben wiederum ist es schwierig, dem Arbeitgeber, dem «Täter», kriminelle Machenschaften nachzuweisen. Wir erlebten Fälle von Menschen, die seit Jahren in der Schweiz lebten und einen einwandfreien Leumund hatten. Später erklärten sie sich dann manchmal bereit, gegen die Täter auszusagen. Ihnen haben wir den Aufenthalt im Einzelfall legalisiert. Das ist bei den Bettelnden leider nicht möglich, unter anderem deshalb, weil sie sich nicht permanent hier aufhalten.
Was haben Sie sonst mit Bern noch vor?
Agora gilt als «Best Practice». Das gilt es sicher weiterzuführen. Meine Zeit in der Stadtregierung neigt sich aber wegen der Amtszeitbeschränkung einem Ende zu. Ich hoffe, dass meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger das Polizeiinspektorat in diesem Vorgehen weiter unterstützt und den Kampf gegen die illegale Bettelei, Menschenhandel und Schwarzarbeit weiterführt. Ich meinerseits kann hoffentlich bald auf nationaler Ebene mitreden.
Sie sprechen Ihre Kandidatur für die Nationalratswahlen an. Der Sprung ins Parlament dürfte auch diesmal schwierig werden. Was ist, wenn es nicht klappt?
Nun, ein Spaziergang wird es nicht. Wenn es nicht reicht, dann verabschiede ich mich in die politische Pension. Obwohl das mit 53 noch ein bisschen früh wäre (lacht).
Yves Schott
Reto Nause wurde am 17. Juni 1971 in Birmenstorf AG geboren. Seit 2009 ist er Gemeinderat der Stadt Bern und leitet die Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie. Zuvor war er unter anderem Generalsekretär der CVP (heute Die Mitte) und Wahlkampfmanager von Doris Leuthard. Nause ist liiert und hat zwei Söhne.