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«Die schwedische Strategie zeigt auf, was es leiden mag»

Ist das Coronavirus wirklich nur unwesentlich gefährlicher als die saisonale Grippe? Und wäre es besser, alle Clubs sofort zu schliessen? Epidemiologe Christian Althaus von der Uni Bern beantwortet alle wichtigen Fragen zur Pandemie.

Die Zahlen sind in den letzten Tagen und Wochen gestiegen. Ist das nun die befürchtete zweite Welle? Persönlich spreche ich ungern von einer Welle. Auch die erste Phase mit Ansteckungen war, zumindest in der Deutschschweiz, eher ein Wellchen. Der Ausdruck Wiederanstieg wäre vielleicht passender. Typische Wellen sehen wir bei Influenzaviren, aber nicht unbedingt bei dieser Pandemie. So oder so geht es darum, die Zahl der Ansteckungen tief zu halten. Im Übrigen gibt es kaum ein Land in Europa, das solch rasche Lockerungen wie die Schweiz vorgenommen hat. Deshalb war von einer Zunahme der Fälle auszugehen.

Die steigende Zahl von positiv getesteten Menschen hat doch vor allem damit zu tun, dass insgesamt mehr getestet wird.
Das Testvolumen kann tatsächlich einen Einfluss auf die Fallzahlen haben. Idealerweise müsste jedoch bei erhöhtem Testvolumen die Testpositivität sinken. Diese lag Anfang Juni noch unter 0,5 Prozent, sprich: Unter 200 Getesteten war ein positiver Fall. Seither stieg dieser Wert auf bis zu 2 Prozent und das ist doch eher ein beunruhigendes Zeichen, dasselbe gilt für die Zunahme der Hospitalisierungen.

Diskotheken machten verschiedentlich mit sogenannten «Superspreading-Events» von sich reden, sprich: Eine Person steckte viele weitere an. Soll man die Nachtclubs schliessen?
Die neuen Restriktionen einiger Kantone, was Clubs anbelangt, halte ich zu diesem Zeitpunkt für sehr sinnvoll. Die Zahlen rasch zum Sinken zu bringen, wird enorm schwierig, zudem wäre das wohl nur mit drastischeren Massnahmen möglich, welche wir vermeiden wollen. Also müssen wir stabilisieren. Auch wenn ich die schwedische Strategie nicht für erfolgreich halte, zeigt sie doch auf, was es im Moment etwa leiden mag.

Was meinen Sie konkret?
In Schweden liegt die Obergrenze für Versammlungen nach wie vor bei fünfzig Personen. Es gibt eine Empfehlung für Homeoffice. In Clubs gelten klare Schutzkonzepte. In der Schweiz wurden im Juni sehr viele Massnahmen aufgehoben, folglich war eigentlich zu erwarten, dass es wieder zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen kommt. Aus persönlicher Sicht hätte ich die 100-PersonenGrenze nicht überschritten und erstmal abgewartet, wie sich die Situation entwickelt.

Was bringen Masken denn nun genau? Das BAG erklärte wochenlang, sie seien für die Bevölkerung nutzlos.
Dass Masken schützen, war eigentlich immer klar, sonst würde sie beispielsweise das Spitalpersonal kaum tragen. Doch sie bieten keinen vollständigen Schutz und es kommt natürlich darauf an, welche Masken benutzt und wie sie getragen werden. Was alle wissen: Die Schweiz hatte zu Beginn der Pandemie schlicht zu wenige auf Lager, weshalb sie der Bund wohl nur dort einsetzen wollte, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Ich finde hingegen, die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr hätte früher eingeführt werden müssen.

Glaubt man der Heinsberg-Studie von Virologie – Professor Hendrick Streeck in Bonn, liegt die Letalität beim Coronavirus bei rund 0,2 Prozent, das ist nur etwa doppelt so hoch wie bei einer Grippe. Alles halb so wild also.
Die Heinsberg-Studie versucht eine Infektionssterblichkeit aufgrund von bloss sieben Todesfällen abzuschätzen. Dafür muss man nicht Wissenschaftler sein, um zu verstehen, dass dies wohl kaum aussagekräftig ist. Andere, fundiertere Studien, etwa aus Genf, ermitteln eine Infektionssterblichkeit zwischen 0,5 Prozent und 1 Prozent. Ähnliche Werte zeigen sich in Baden-Württemberg, Bayern oder Österreich. In der Lombardei, wo es zu einer starken Belastung der Spitäler kam, war die Infektionssterblichkeit etwas höher. Um einen Vergleich zur saisonalen Influenza zu ziehen: Eine Sterblichkeit von 0,1 Prozent entspricht einer recht schweren Grippe, folglich liegt die Infektionssterblichkeit beim Coronavirus gut zehnmal höher. Die als Schweinegrippe bekannte pandemische Influenza von 2009 war übrigens eher milde und wies eine Infektionssterblichkeit von etwa 0,01 Prozent auf.

Hendrick Streeck betonte bei seinen Fernsehauftritten immer wieder: «Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.»
Natürlich müssen wir versuchen, mit dem Virus umzugehen, das bedeutet meiner Meinung aber nicht, dass wir es sich frei ausbreiten lassen. Auch nicht unter jungen Menschen. Vorläufig besteht die Hoffnung, dass im nächsten Jahr ein Impfstoff bereitsteht. Bis dahin müssen wir uns in der neuen Normalität zurechtfinden. Diejenigen Staaten, welche das Virus am besten unter Kontrolle haben, profitieren auch wirtschaftlich und gesellschaftlich davon. Viele Länder in Asien haben Covid-19 ganz gut im Griff, das sollte also bei uns ebenfalls möglich sein.

Eine weitere Behauptung: Der Lockdown hat nichts gebracht, die Zahlen sanken bereits zuvor, das zeigen die Statistiken.
Verschiedene wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Fallzahlen erst durch den Lockdown zurückgingen. Natürlich hatten die getroffenen Massnahmen vor dem Lockdown bereits einen Effekt, das lässt sich an der effektiven Reproduktionszahl gut erkennen. Um die Anzahl Neuinfektionen jedoch rasch zu senken, muss die Reproduktionszahl deutlich unter 1 liegen. Hätten wir dies in der Schweiz nicht erreicht, wären wir für längere Zeit auf einem stabilen hohen Niveau geblieben mit täglich Dutzenden Menschen, welche am Coronavirus sterben.

Um zu sagen, dass Schweden einen falschen Weg eingeschlagen hat, ist es noch viel zu früh.
Ich bin froh, hat die Schweiz einen anderen Entscheid getroffen und kann nun über weiterreichende Lockerungen nachdenken als Schweden. Die schwedischen Behörden müssen eingestehen, die Situation unterschätzt zu haben. Ausserdem ging man davon aus, dass im Mai oder Juni eine Herdenimmunität erreicht wird, was schlicht illusorisch war.

Wann kommt der Impfstoff? Martin Bachmann vom Inselspital sagt, das sei bereits im November der Fall.
Vor 2021 halte ich für unrealistisch. Ich lasse mich gerne überraschen, doch zunächst müssen grössere Studien durchgeführt werden. Dafür bieten sich im Moment vor allem die USA und die Länder Südamerikas an, da sich dort das Virus weiterhin stark ausbreitet. Sobald ein Impfstoff vorhanden ist, muss man sich überlegen: Wer wird zuerst geimpft und in welchen Ländern? Nur Risikogruppen oder die breite Bevölkerung? Ich gehe davon aus, dass es am Ende wohl mehrere Impfstoffe geben wird.

Wann erhalten wir unser altes Leben zurück?
Hoffentlich so bald wie möglich. Vorläufig müssen wir allerdings auf gewisse Dinge verzichten. Je besser wir uns jetzt an die getroffenen Massnahmen halten, desto mehr ist später möglich.

Yves Schott

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