Kritik findet Philippe Müller gut. Bloss, sagt er, müsse sie auch ausgewogen sein. Eine seiner umstrittensten Aussagen würde der FDP-Regierungsrat heute sogar noch deutlicher betonen als damals.
Philippe Müller, macht Ihnen die neue Virusvariante Angst?
Es geht. Bis jetzt deuten die Aussagen der Wissenschaftler darauf hin, dass Omikron zwar ansteckender, aber weniger gefährlich ist. Ich bin kein Experte und kann das nicht abschliessend beurteilen. Entscheidend ist, dass wir uns an die bestehenden Massnahmen halten. Ich hoffe, dass diese sowie die verschiedenen Varianten nur einen milden Krankheitsverlauf auslösen. Das ist auch der Hauptzweck der Impfung.
Die Zerrissenheit in der Gesellschaft, die in den letzten Wochen auch auf den Strassen sichtbar war – erleben Sie die auch in Ihrem engsten Umfeld?
Es gibt beide Richtungen. Am Schluss ist das eine persönliche Haltung. Ich bedaure das Phänomen an sich. Es geht uns wohl einfach zu gut. Im Zusammenhang mit den Skeptiker-Protesten wurden immer wieder Polizisten bedroht. Immerhin hinterliessen die Teilnehmenden keine Spur der Verwüstung, wie es bei Antifa-Kundgebungen oft der Fall ist. Hinzu kommen weitere negative Begleiterscheinungen.
Die da wären?
Die Anzahl Fälle von häuslicher Gewalt hat deutlich zugenommen. Und der Aufwand für Personenschutz ist massiv gestiegen.
Machten Ihnen die wiederkehrenden Skeptiker-Umzüge an Donnerstagabenden Bauchweh?
Zahlreiche Bernerinnen und Berner verzichteten an diesen Abenden aufs Einkaufen, gewisse Läden schlossen früher. Die Demonstrationen waren schlecht für die Stimmung, schlecht für die Wirtschaft und führten zu einer Zusatz-Belastung im Polizeikorps. Was mir bei den Kundgebungen aufgefallen ist: Es existiert ein harter Kern, dem es um die Sache geht. Ein grosser Teil sonst war betrunken und irgendwie zufällig dabei.
Das Recht auf freie Meinungsäusserung ist allerdings ein Grundrecht.
Wieso haben die Veranstalter dann fast nie um eine Genehmigung ersucht? Sind diese Anlässe unbewilligt und gewalttätig, sind sie illegal und geniessen keinen Grundrechtsschutz. Das hat auch das Bundesgericht verschiedentlich festgestellt. Zudem fährt die Stadt Bern bei der Bewilligung solcher Anfragen ja eine grosszügige Linie. Zu Recht.
Sie sind ein Mann der klaren Worte andere Medien kommen zum gleichen Schluss. Eine korrekte Interpretation?
Ich finde eigentlich, ich würde mich eher noch zurückhaltend äussern (lacht). Ich bin der Ansicht, man soll Dinge so aussprechen, dass sie verstanden werden und Doppeldeutigkeiten und «Nebel» vermeiden.
Selbst als Exekutivpolitiker?
Natürlich. Das bedeutet ja nicht, unanständig oder schroff zu sein. So können die Leute zumindest darüber entscheiden, ob sie mit meinen Aussagen einverstanden sind oder nicht.
Tendenziell linke Kreise dürften Sie sehr wohl als unanständig bezeichnen. Etwa, als Sie die versuchte Selbstverbrennung eines iranischen Kurden im Sommer 2020 als «Show» betitelten. Würden Sie das heute nach wie vor so sagen?
Noch mehr als damals! Fernsehaufnahmen zeigen, wie Teilnehmende des Protests kreisförmig um diesen Mann herumstehen und ihr Handy in Position bringen, um gute Aufnahmen machen zu können. Und selbstverständlich griff die Polizei ein, denn hätte sich der Mann tatsächlich spontan mit Benzin übergossen, wäre danach unter anderem auch wegen unterlassener Hilfestellung ermittelt worden. Später sagten mir sogar Exponenten aus dem Flüchtlingsumfeld, dass sie dazu rieten, auf diese Inszenierung zu verzichten! Es war also geplant. Tatsächlich war das alles am Schluss kontraproduktiv. Der Einzige, der mir leidtat, ist der Kurde, der für diese Aktion instrumentalisiert wurde. Leider sprechen die Medien noch heute von «Selbstverbrennungsversuch». Sie sind diesem – fahrlässigen! – PR-Gag voll aufgesessen.
Ein weiteres Thema, das Sie begleitet, ist Racial Profiling. Dunkelhäutige Personen würden von der Polizei ohne begründeten Tatverdacht angehalten und kontrolliert, so der Vorwurf.
Wir sind nicht in den USA. Bei uns arbeiten gut ausgebildete Fachleute, die auf genau solche Fragen sensibilisiert werden. Wir wollen kein Racial Profiling bei uns. Ich sage nicht, dass keine Fehler passieren. Und sie sollen, wenn sich ein Verdacht bestätigt, definitiv aufgearbeitet werden. Ich bin bloss dagegen, Pauschalvorwürfe zu erheben – und wenn dann Beispiele verlangt werden: Fehlanzeige. Die Reitschule rief ja ebenfalls schon dazu auf, Polizistinnen und Polizisten bei deren Einsatz zu filmen. Doch wo sind diese Videos jetzt, wenn es angeblich so oft passiert? Es ist immer wieder die Rede von Polizeigewalt. Dabei steht wohl kaum eine Behörde unter so starker Beobachtung wie wir. Wenn es konkret wird, heisst es häufig: Ich habe von jemandem gehört, der es mir von jemand anderem weitererzählt hat. Alle sprechen davon, auch die Medien – wirklich konkrete Beispiele gibt es nie. Das reicht nicht.
Wann waren Sie selbst zum letzten Mal in der Reitschule?
Im Sommer 2020 hielt ich mich mit einem Kollegen auf dem Vorplatz auf und habe ein Bier getrunken. Inkognito.
Insgesamt sind Sie mit Ihren Polizistinnen und Polizisten also zufrieden?
Sehr, ja. Sie agieren meist sehr dezent. Ich war beispielsweise dabei, als sie letzten Herbst das Klimacamp auf dem Bundesplatz räumen mussten. Man hat die Jungen zig Mal dazu aufgefordert, den Platz zu verlassen. Viele taten das auch. Als sich dann einige aneinander festhielten, gingen unsere Beamten zu zweit auf einen Aktivisten zu und entfernten ihn aus der Kette. Handelte es sich um eine weibliche Person, war von unserer Seite in der Regel mindestens eine Frau mit dabei. Ein paar Minuten später folgte der Nächste. Man nahm sich also Zeit.
Ihre Direktion ist nicht zuletzt für die Rückschaffung abgewiesener Asylsuchender zuständig. Eine undankbare Aufgabe.
Das ist nicht die Frage. Es ist eine Aufgabe, die gemacht werden muss. Man muss in diesem Zusammenhang klarstellen, dass wir nur umsetzen, was der Gesetzgeber demokratisch so entschieden hat. Menschen aus Ländern, in denen sie nicht verfolgt werden, müssen und können zurück in ihre Heimat.
Haben Sie hin und wieder Mitleid mit den Migranten?
Es gibt tatsächlich schwierige Situationen – namentlich mit Kindern. Und keine einfachen Lösungen. Teilweise werden diese Leute instrumentalisiert. Zudem stört mich die häufig einseitige Berichterstattung der Medien.
Etwas genauer bitte. In Zeitungsbeiträgen wurde ich dafür kritisiert, Asylgesuche abgelehnt oder bestimmte Personen nach Afghanistan ausgeschafft zu haben.
Bloss: Das entscheidet nicht der Kanton, sondern der Bund. Er bestimmt darüber, ob eine Ausweisung zumutbar ist. Es ist nicht an uns, das zu interpretieren. Gesetze sind dazu da, Ärmere und Schwächere zu schützen. Wenn wir sie nicht einhalten, können wir am Schluss auch keine Sozialhilfe mehr auszahlen. In einem Bericht war kürzlich die Rede davon, Rückkehrzentren bedeuteten für Flüchtlinge «Endstation». Das ist falsch. Endstation ist in diesem Fall das Herkunftsland Marokko. Dort sind sie nicht verfolgt.
Fake News in den Berner Medien?
Das würde ich so nicht sagen. Einseitige Berichterstattung, das schon. Die Medien sollen unbedingt kritisch sein – mal eine kritische Frage in die andere Richtung könnte hingegen nicht schaden.
Verständlich ist der Wunsch von Nordafrikanern, nach Europa überzusetzen, trotzdem.
Sicher. Wir haben in der Schweiz schlicht Glück, hier geboren worden zu sein. Gleichwohl können wir nicht die Welt retten. Da nützen alle Berichte über arme Familien in Rückkehrzentren nichts. Oder nehmen Sie den Libanon: Niemand von uns möchte wohl, gerade nach der verheerenden Explosion in Beirut, dort wohnen wollen. Doch verfolgt sind diese Menschen nicht. Deswegen sollte man nicht mit dem Finger auf uns oder unsere Mitarbeitenden zeigen, sondern wenn schon versuchen, bestehende Gesetze zu ändern.
Wie würden Sie die Stimmung im Regierungsrat beschreiben?
Wir diskutieren manchmal heftig, keine Frage. Insgesamt ist sie allerdings sehr gut. Das ist in diesen Zeiten nicht selbstverständlich. In der Corona-Krise fanden wir alle zusammen eine sehr gute Einigkeit zugunsten der Sache. Da muss ich allen Regierungskolleginnen und -kollegen ein Kompliment machen – unabhängig von der Parteizugehörigkeit.
Dann stört es Sie also nicht, wenn im Regierungsrat nach den Wahlen im März Rot-Grün eine Mehrheit hätte?
Und ob! Nicht wegen der Personen, sondern weil die rot-grünen Regierungsmitglieder einem zu direkten parteipolitischen Anspruch ihrer Parteien ausgeliefert sind. Wir haben gerade während Corona mit bürgerlicher Mehrheit oft gute Lösungen erreichen können, weil die Parteipolitik in der Regierung keine grosse Rolle spielte. Das wäre bei einem Wechsel anders.
Zum Schluss drei private Fragen: Wie feiern Sie Weihnachten?
Zuhause mit der Familie unter dem Tannenbaum. Ich finde Weihnachten etwas sehr Schönes.
Wie viel schlafen Sie pro Nacht?
Rund fünf bis sechs Stunden. Ich schlafe nicht immer gleich gut ab und zu ist es auch weniger.
Welches Buch lesen Sie momentan?
«Achtung: Landschaft Schweiz. Vom nachhaltigen Umgang mit unserer wichtigsten Ressource» von Hans Weiss.
Yves Schott