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«Die SP hat das Problem selbst verursacht»

Mit einer neuen Initiative wollen linke Berner Parteien für faire Mieten sorgen. Doch wer ist eigentlich schuld an der Wohnmisere? Der Bärnerbär hat SP-Grossrätin Edith Siegenthaler und SVP-Nationalrat Erich Hess zum Streitgespräch geladen.

Edith Siegenthaler, wie gross ist die Wohnungsnot in Bern?
Edith Siegenthaler: Sehr gross, die Leerwohnungsziffer in der Stadt beträgt 0,5 Prozent. Sprich: Es gibt viel zu wenige verfügbare Wohnungen. Das gilt übrigens für die gesamte Region und auch für den Kanton.
Erich Hess: Die SP hat das Problem durch die unkontrollierte Zuwanderung selbst verursacht. Es kommen zu viele Ausländer – und dann erst noch die falschen, also nicht die, die arbeiten gehen. Allein letztes Jahr verzeichnete die Schweiz einen Nettozuwachs von 180 000 Menschen. Das verknappt Wohnraum und lässt die Mieten steigen.

An der Wohnmisere ist also die SP schuld, Frau Siegenthaler?
Siegenthaler: Das sehe ich natürlich ganz anders. Die meisten Personen, die Erich Hess anspricht, stossen via Personenfreizügigkeitsabkommen zu uns – wir brauchen sie als Arbeitskräfte in den Spitälern oder in der Informatik, damit die Wirtschaft überhaupt läuft. Nein, nicht die Mieterinnen und Mieter tragen die Verantwortung dafür, dass die Mieten steigen, sondern die Vermieter. Sie bestimmen die Preise!

Hier kurz ein paar Beispiele zur Situation in der Region: In Neuenegg gibt es 2,68 Prozent freie Wohnungen, in Schwarzenburg 3,09 und in Seedorf 3,37. Rund um Bern sind scheinbar genug Mietobjekte vorhanden. Haben wir es folglich mit einem Zentrumsphänomen zu tun?
Siegenthaler: Der kantonale Durchschnitt beträgt 1,5 Prozent – das ist zu tief.
Hess: Es war schon immer so, dass Zentrumslagen am teuersten sind. Und hier sind Ausländer gleich nochmals ein Problem, weil sie deutlich häufiger die Nähe zur Stadt suchen als Schweizer, die sich tendenziell eher auf dem Land niederlassen. Zu deiner Bemerkung zur Zuwanderung, Edith: Letztes Jahr wanderten rund 75 000 Ukrainer ein, 25 000 weitere Personen via Asylverfahren – die Mehrheit kam also nicht via Personenfreizügigkeit in die Schweiz.

In Jegenstorf wird eine Dreieinhalbzimmerwohnung derzeit für rund 1400 Franken angeboten. Das ist ein moderater Preis. Sind zwanzig Minuten pendeln für einen Arbeitsweg zumutbar?
Siegenthaler: Das hängt von der Situation ab. Wer Kinder hat, die in der Stadt Bern die Schule besuchen und dorthin zügelt, muss eine grössere Hürde nehmen als eine alleinstehende Person. Andererseits macht es durchaus Sinn, nahe vom Arbeitsplatz zu wohnen. Man verliert weniger Zeit, benötigt weniger Infrastruktur.

Trotzdem: Das sind Luxusprobleme.
Siegenthaler: Das finde ich nicht. Gesamtwirtschaftlich tut sich ein Staat keinen Gefallen, wenn er viel Pendler-Infrastruktur für viele Menschen zur Verfügung stellen muss.
Hess: Ich würde auch gerne in der Stadt leben, ich kann es mir bloss nicht leisten.
Siegenthaler: Ach, komm jetzt! (lacht)

Sind zwanzig Minuten Arbeitsweg denn zumutbar, Herr Hess?
Hess: Selbstverständlich. Ich benötigte zeit meines Lebens stets mehr als zwanzig Minuten zur Arbeit. Und eine Familie hat Ende des Monats erst noch mehr Geld im Kässeli, wenn sie etwas ausserhalb wohnt und eine tiefere Miete bezahlt.

Dass Zentrumslagen am teuersten sind, mag wohl stimmen. Aber genau diese Tatsache benachteiligt ja sozial Schwache.
Hess: Die Durchschnittslöhne sind hierzulande in den letzten 20 Jahren um 30 Prozent gestiegen. Logisch, dass auch die Mieten entsprechend teurer werden, weil beispielsweise Handwerker mehr kosten. Ein zweiter wichtiger Punkt: Extrem tiefe Zinsen sorgten für enorm hohe Liegenschaftspreise. Es konnten also kaum vernünftige Renditen erzielt werden.
Siegenthaler: Die Mieten sind, im Vergleich mit der allgemeinen Teuerung, klar stärker gestiegen als andere Lebenskosten. Im Mietgesetz ist zudem klar definiert, wie viel Rendite mit einer Immobilie erzielt werden darf. Dennoch stellen wir immer wieder fest, dass überhöhte Renditen generiert werden. Das ist eindeutig illegal. Hier setzt unsere Initiative an: Wer einen Mietvertrag unterschreibt, soll wissen, was der Vormieter bezahlt hat. Eine Offenlegung hätte eine dämpfende Wirkung zur Folge, weil wohl nur die wenigsten so dreist wären, ohne ersichtlichen Grund plötzlich 1000 Franken mehr zu verlangen.

Sagen wir, jemand bezahlt für eine Dreizimmerwohnung 1500 Franken Miete, der Nachfolger 1800 Franken. Ist eine solche Erhöhung gerechtfertigt?
Hess: Das kann ich generell so nicht sagen. Es hängt davon ab, ob der Vermieter Sanierungen vorgenommen hat. So oder so führt die Initiative zu massiv mehr Bürokratie: Man muss bei jedem Wohnungswechsel ein Formular ausfüllen, schliesslich wird eine Schlichtungsstelle eingesetzt, die heute schon überlastet sind.
Siegenthaler: Die Schlichtungsstellen können diesen Aufwand sicher bewältigen. Die Praxis funktioniert ja in anderen Kantonen wie Zürich oder Basel einwandfrei. Und der vorangegangene Mietzins ist dem Vermieter sowieso bekannt.

Erich Hess, wie würde Ihr Patentrezept für günstigere Wohnungen aussehen?
Hess: Die Zuwanderung muss gebremst werden. Je mehr Leute, je weniger Wohnungen.

Sie möchten ernsthaft nur die Zuwanderung ins Feld führen? Was ist mit verdichtetem Bauen?
Hess: Auch hier ist die SP schuld. Bei der Zuwanderung hilft sie nicht mit, sie zu begrenzen, wenn es um verdichtetes Bauen geht, ist sie zum Beispiel wegen eines Schattenwurfs dagegen.
Siegenthaler: Ich weiss nicht, wovon du sprichst. Im Gegensatz zu euch haben wir die Viererfeldüberbauung befürwortet.
Hess: Das Viererfeld ist aus einem anderen Blickwinkel eine traurige Geschichte.
Siegenthaler: Weil sich dort nun keine Zuckerrüben mehr anpflanzen lassen? (lacht)
Hess: Nein, hier wird Geld vom Steuerzahler verschenkt, weil man den Wohnbaugenossenschaften den Boden viel zu günstig abgibt.

Die dann Liegenschaften für sozial Schwache bauen. Da kann doch niemand etwas dagegen haben.
Hess: Bern braucht dringend gute Steuerzahler – mit zu tiefen Bodenpreisen lockt man definitiv keine an. Wir können uns den Wohlstandssozialismus, den die Linken betreiben, schlicht nicht mehr lange leisten. Irgendwann leben hier nur noch Sozialhilfeempfänger.
Siegenthaler: Dein Szenario wiederum läuft darauf hinaus, dass Normalverdienende es sich kaum mehr leisten könnten, im Zentrum zu wohnen. Das will ich nicht!
Hess: Der Markt entscheidet.

Frage zum Schluss: Wie wohnen Sie persönlich?
Hess: In einer Dreieinhalbzimmerwohnung am Rande von Bern.
Siegenthaler: In einer Zweieinhalbzimmerwohnung am Loryplatz.

Yves Schott

Edith Siegenthaler, geboren 1983, wuchs in Rapperswil BE auf. Sie war acht Jahre Co-Präsidentin der SP Stadt Bern und von 2016 bis 2022 im Stadtrat. Seit Ende 2021 ist sie Mitglied des Grossen Rats. Siegenthaler arbeitet als Geschäftsleiterin der Gewerkschaft Travail Suisse und wohnt in Bern.

Erich Hess, geboren am 25. März 1981, wuchs im Emmental auf. Er ist gelernter Lastwagenführer und Unternehmer. Er war Präsident der Jungen SVP Schweiz, ist mit Unterbrüchen seit 2005 Berner Stadtrat, war acht Jahre lang Grossrat und sitzt seit 2015 im Nationalrat.

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