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Die völlige Dunkelheit hautnah erleben

Vor einigen Wochen erhielt das Blindenmuseum in Zollikofen einen speziellen Preis. Im neuen Pavillon erfahren Besucher, was es bedeutet, permanent in totaler Finsternis zu leben.

Der moderne Holzpavillon am Höheweg 10 in Zollikofen ist die neue Heimat des Schweizerischen Blindenmuseums. Es gehört zur Blindenschule Zollikofen und bietet einen spannenden Lern- und Erlebnisort auf 300 Quadratmetern. Das kleine Museum sorgte Anfang Mai international für Aufsehen, als es an der Verleihung des Europäischen Museumspreises 2022 (EMYA) in Estland eine «Special Commendation» erhielt.
Gemäss Jury verdiente sich das Blindenmuseum die Auszeichnung dafür, «dass es als kleines Museum ein Lernumfeld für alle schuf. Mit seiner inklusiven Philosophie, Strategie und seiner Gestaltung vermittelt es die 200-jährige Geschichte der Bildung für die Sehbehinderten, indem es verschiedene sensuelle und praktische Erfahrungen für alle Besuchenden anbietet.» Silvia Brüllhardt, die Museumsleitern, sagt strahlend: «Wir haben mit einer einzigartigen Kombination von Ausstellung, Dunkelraum, Multimedia-Erlebnissen, Atelier für Workshops und vielen Sinneserfahrungen aus der Blindenwelt überzeugt. Uns war und ist es wichtig, keine trockene Ausstellung zu machen, sondern eine vielseitige Entdeckungs- und Erfahrungswelt zu schaffen.»
Im «Museum zum Anfassen» dürfen – ja sollen – alle Ausstellungsobjekte berührt und bedient werden. So werden alle Exponate auch für blinde und sehbehinderte Menschen erlebbar. Silvia Brüllhardt: «Der neue Pavillon ist ein Informations-, Beratungs- und Lernzentrum zur modernen Blindenpädagogik und präsentiert die blindengeschichtliche Entwicklung der letzten 200 Jahre. Mit persönlichen Portraits betroffener Menschen und dem beliebten Dunkelraum können wir unsere Besuchenden auch emotional berühren.»

Bewusst verunsichern
Wer sich auf eine Museumstour einlässt, bekommt realistische Eindrücke davon, wie blinde und sehbehinderte Menschen in ihrem Alltag unterwegs sind. Zu Beginn der Tour erhalten die Besuchenden einen viersprachigen Mediaguide, der wie ein Smartphone funktioniert und den barrierefreien Besuch ermöglicht.
Im Foyer wird man von sechs lebensnahen Videoporträts betroffener Menschen begrüsst. Sie schildern eindrücklich, wie sie ihr Leben gestalten und meistern. Die nächste Station ist der Dunkelraum. Man sitzt in völliger Dunkelheit und lauscht einem Hörspiel, in welchem eine junge blinde Frau ihren Alltag schildert. Nach dem Hörspiel sind die Besuchenden gefordert und müssen sich im Dunkeln zum Ausgang tasten. Zum Glück ist an den Wänden ein Handlauf montiert, der zum Ausgang führt. Der kurze Parcours in totaler Finsternis wird durch verschiedene Tast-Stationen zum spielerischen Rätselraten. Er will bewusst etwas verunsichern und so die Herausforderungen blinder Menschen aufzeigen. Wir sind jedenfalls erleichtert, als wir endlich die Ausgangstür erreichen und den Rundgang bei Tageslicht fortführen können.
Die nächste Station ist die Dauerausstellung. Hier wird mit zahlreichen Ausstellungsobjekten die Entwicklung von 200 Jahren Blindenpädagogik erklärt. Unter anderem lernt man die Brailleschrift – ­die Schrift für blinde Menschen – ­näher kennen. Verschiedene Spiele und Aufgaben simulieren eine Welt mit Sehbehinderung. Dank der Simulationsbrille mit milchig-trüben Gläsern erfährt man, wie beschwerlich das Leben mit einer Sehbehinderung sein kann. Auch hier dürfen alle Ausstellungsobjekte angefasst werden, der Mediaguide liefert weitere Informationen.
Im nächsten Raum, dem Atelier, stehen mehrere Arbeitstische mit Unterrichtsmaterialen und Informationen für die Workshops bereit. Während drei Stunden erleben Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen und andere interessierte Gruppen die Welt der blinden und sehbehinderten Mitmenschen und können ihr Wissen zum Thema vertiefen. Die Workshops für Grundschulklassen orientieren sich am Lehrplan 21 und sind nach dem Praxisleitfaden «ein Museum für die Schule» aufgebaut.

Apéros in der totalen Finsternis
«Die Auszeichnung mit der Special Commendation des Europäischen Museumspreises freute uns wahnsinnig und motiviert uns, das Blindenmuseum laufend zu verbessern. Leider konnten wir seit der Eröffnung des neuen Pavillons im Herbst 2020 pandemiebedingt nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen.» Silvia Brüllhardt hofft, dass sie mit ihrem Team jetzt richtig loslegen kann. «Wir bieten zum Beispiel eine tolle Plattform für Teamevents und spezielle Anlässe bis zu 30 Personen. Das Thema ‹Anders sehen› eignet sich hervorragend für erlebnisorientiertes Teambildung. Nach einer spannenden Führung bieten wir zum Beispiel spezielle Apéros an. Entweder draussen an der Sonne in der grosszügigen Gartenanlage oder drinnen in der totalen Finsternis des Dunkelraums.»

Jürg Morf

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