Nach der Sondersession des Nationalrates am 11. Mai ist Schluss: Regula Rytz verabschiedet sich von der Bundeshaus-Politik und bewegt sich künftig stärker auf dem europäischen Parkett.
Regula Rytz erscheint mit dem Publibike zum Bärnerbär-Gespräch in der Brasserie Obstberg. «Mein superschnelles JIVE-Velo befindet sich in der Reparatur», begrüsst sie uns lachend. Regula Rytz und das Velo – sie gehören zusammen wie der Zytglogge zu Bern. Ihre Ziele sind auch nach 30 Jahren Tätigkeit auf verschiedensten Bühnen der Schweizer Politik dieselben geblieben: Erhalt unserer Lebensgrundlagen und ökologische Politik, die auch sozial, zukunftsgerichtet und fortschrittlich ist. Nun sucht sie eine andere Bühne, eine internationale. So ist sie für das Präsidium der Entwicklungsorganisation Helvetas vorgesehen. Weitere Aufgaben sieht sie als Delegierte der europäischen Grünen. Gäbe es nicht noch genügend zu tun, um in unserem Land ihre Anliegen umzusetzen? «Absolut, aber ich bin nun 60-jährig. Zeit, sich Gedanken zu machen für den letzten Teil meines Berufslebens», sinniert die Noch-Nationalrätin. «Kommt dazu, dass die Grünen durch den Wahlerfolg 2019 neue Talente im Parlament haben, so dass ich beruhigt und aus der Position der Stärke die Bühne wechseln kann», wirbt sie noch schnell für ihre Partei.
«Den Anstand verloren»
An der Politik faszinierte Regula Rytz schon früh, mit andersdenkenden Menschen aufgrund von Fakten und Argumenten gemeinsame Lösungen zu erarbeiten, mit Vertrauen etwas zu bewegen. Ganz Regula Rytz: Druckreif formuliert, mit Respekt, immer auf Augenhöhe. Überhaupt: Das Wort Respekt benützt sie mehrmals in unserem Gespräch. «Ich bin nicht die Populistin, welche sich inszeniert und provoziert, das passt einfach nicht zu mir. Ich habe meist einen konstruktiven Umgang mit politischen Gegnern gefunden.» Bei ihr sind dies nicht Worthülsen, sie tut was sie sagt, Worte und Taten stimmen überein. Zu Beginn hatte sie es nicht einfach, galten doch grüne Anliegen vor 20 Jahren noch als exotisch. «Ich habe mir sicher nicht die bequemste Position ausgesucht. Wir betreiben alle Raubbau an den Lebensgrundlagen der künftigen Generation. Hier mit neuen Lösungen zu kommen, war nie einfach», blickt Regula Rytz zurück. Aber viele Themen sind seither in der Gesellschaft angekommen. Sie erwähnt als Beispiel die Einführung von Tempo 30, «heute in vielen Schweizer Städten Realität», stellt sie befriedigt fest. Hingegen hätten persönliche Angriffe in den letzten Jahren massiv zugenommen. Regula Rytz führt dies nicht zuletzt auf die Nutzung der sozialen Medien zurück, die Hemmschwelle sei gesunken, viele Menschen hätten den Anstand verloren. «Wir müssen versuchen, respektlose Tendenzen zu unterbinden, denn sie untergraben unsere politische Kultur.»
Energiewende verschlafen
Die Energie- und Klimapolitik ist für die Grüne-Politikerin seit jeher das Kernthema, wofür sie auch in den letzten elf Jahren im Nationalrat an vorderster Front kämpfte. «Es geht nicht nur um Umweltprobleme von heute, sondern um die Zukunft und die Freiheit unserer Kinder», ereifert sie sich. Dank der weltweiten Klimabewegung, gestützt durch wissenschaftlich belegte Studien, habe sich endlich auch die FDP etwas geöffnet. Die Wirtschaft sei heute bezüglich Klimaschutz weiter als das Parlament. «Viele Unternehmen sehen, dass die Klimawende wertvolle lokale Arbeitsplätze schaffen kann und was auf dem Spiel steht, wenn es uns nicht gelingt, die Klimaerhitzung zu bremsen.» Rytz ist überzeugt, dass wir die Energiewende verschlafen haben: «Der Krieg in der Ukraine zeigt deutlich unsere Abhängigkeit von fossilen Energien und autoritären Systemen. Wenn wir vor 20 Jahren schon umgesetzt hätten, was technisch möglich gewesen wäre, dann hätte Putin heute kein Geld für seinen brutalen Krieg.» Mit welchen politischen Gegnern verstand sie sich, mit welchen weniger? «Es funktioniert dort am besten, wo der Wettbewerb der Ideen und Lösungen mit Respekt abläuft. Mit Albert Rösti von der SVP konnte ich gut kutschieren, mit Roger Köppel hatte ich mehr Mühe», erinnert sie sich. Wenn es weniger um die Sache, sondern mehr um die Inszenierung gehe, werde es schwierig. Für die Zukunft der Grünen Schweiz ist Regula Rytz optimistisch «Wir bewegen uns auf einem Wähleranteil von über 13 Prozent. Früher waren wir eine Eisbrecherpartei, setzten Probleme auf die Agenda, die vorher ignoriert wurden. Heute sind wir zur Gestaltungs- und Lösungsfindungspartei geworden.» Für Regula Rytz ist klar, dass die Grünen Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat haben. Für sie persönlich? «Nein, in meiner momentanen Situation sehe ich nicht, dass das noch einmal aktuell wird.»
Fünf Flüge in 60 Jahren
Von 2005 bis 2012 war Regula Rytz im Berner Gemeinderat in der Regierungsverantwortung und stand der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün vor. Wie erlebte sie die «andere Seite» des Politgeschehens? «Wunderbar, grossartig!», so ihr Fazit der achtjährigen Tätigkeit in der Stadtregierung. «In dieser Phase gab es einen gewaltigen Schub in der Stadtentwicklung, ich konnte entscheiden, umsetzen, grosse Projekte mehrheitsfähig machen.» Während dieser Zeit habe sie ihre Fähigkeiten der argumentativen Überzeugunskraft und Konsensfindung am besten einsetzen können. Wie hält sie es selbst mit dem Klimaschutz? «Ich kann nicht Auto fahren und in 60 Jahren war ich bloss fünfmal mit dem Flugzeug unterwegs.» Mit ihrem Partner bewohnt sie im Breitenrainquartier eine Dreizimmerwohnung, «möglichst platzsparend», wie sie betont. Regula Rytz ist Vegetarierin, verschmäht aber auf Wanderungen hie und da eine Salami keineswegs. «Man ist nicht immer perfekt», fügt sie schmunzelnd hinzu. Widersprüche gehören zum Leben, auch zu jenem von Regula Rytz.
Peter Widmer