
Sein Buch ist die Bibel, seine Bühne die Kanzel. Doch auf einmal stand Gottfried Locher, Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), im Frühling im Rampenlicht der nationalen Medien.
Kurz vor der Wiederwahl im Juni flammte plötzlich Kritik an Lochers Person auf: «Er liebt den grossen Auftritt», attestierte ihm die «Rundschau». Und: Er habe ein grosses Machtbewusstsein. Grund für die Vorwürfe war Lochers geplante Verfassungsreform. Einer der zentralen Punkte: der Zusammenschluss der reformierten Landeskirchen zu einer geistlichen Gemeinschaft. Mit Locher als Kirchenpräsidenten und dem Recht, geistlich zu leiten – ganz ähnlich also, wie das die katholische Kirche praktiziert. Doch geht es dem 51-jährigen Berner tatsächlich nur um Macht und Führung? Das grosse Interview mit einem Mann, der sich oft unverstanden fühlt, obwohl er nur eines im Sinn hat: eine Reformation für seine Reformierten.
Gottfried Locher, Sie wurden Im Juni als Kirchenbundspräsident wiedergewählt, der grosse Medienrummel hat sich gelegt.
Seither hat noch eine zweite Wahl stattgefunden: Im September wurde ich als Präsident der europäischen Protestanten bestätigt. Die «Wahlsaison» ist damit endlich vorbei. Ich freue mich, weil ich nun wieder meine eigentliche Arbeit machen kann, schliesslich gibt es viel zu tun in der Kirche. Wir werden kleiner. Umso enger sollten wir zusammenarbeiten. Das ist wichtig für die Zukunft, zusammen sind wir stärker.
Eines Ihrer Kernziele: Sie wünschen sich eine straffere Organisation des Kirchenbunds.
Nein, nicht straffer und schon gar nicht zentralistischer. Aber verlässlicher und profilierter. Den Föderalismus darf man nicht «kippen», wie das hie und da bei anderen Konfessionen geschieht. Aber mehr Zusammenarbeit wäre gut. Mit der neuen Verfassung schaffen wir das unter einem gemeinsamen Namen. Wir sind dann kein loser Kirchenbund mehr, sondern eine evangelisch-reformierte Kirche. Eine geeinte Kirche.
Kommen wir zu Ihnen. Sie sagen: Es braucht eine charismatische Persönlichkeit, die die reformierte Kirche aus der Krise führen soll.
Das sagen andere. Meine Meinung: Wir brauchen beides, starke Behörden und starke Einzelfiguren. Dass diese durchaus charismatisch sein dürfen, haben wir bei Pfarrer Sieber gesehen.
Genauso jemand sind Sie, was Ihnen aber nicht zuletzt Kritik einbringt.
Dessen bin ich mir bewusst und das wusste auch das Wahlgremium, das mich wiedergewählt hat. So oder so: Kritik ist gut, wie sonst kann man sich verbessern?
Sehen Sie sich als Leuchtturm, als Sprachrohr dieser Organisation?
Ich sehe mich als eine Stimme unter vielen. In jeder einzelnen Gemeinde braucht es jemanden, der der Kirche ein Gesicht gibt. Wir haben viele gute Leute, Männer und Frauen.
Geht es um Macht?
Mit Macht überzeuge ich niemanden. Was zählt, sind Argumente, Ausstrahlung, Begeisterung. Aber es ist immer gut, die Machtfrage anzusprechen. Man kann es netter formulieren und von Kompetenz reden – der Ausdruck Macht ist wenigstens ehrlich. Macht gehört in die Hand von Kollektivbehörden. Bei uns heisst das: Der Rat entscheidet, der Präsident spricht.
Welche kirchlichen Werte sind Ihnen als reformierter Pfarrer wichtig?
Ich orientiere mich an Jesus. Dort sehe ich, was es heisst, auf Gott zu vertrauen und mutig den eigenen Weg zu gehen, komme, was wolle. Zivilcourage ist mir wichtig, innere Freiheit, Eigenverantwortung. Nicht immer darauf schauen, was andere von mir erwarten. Sondern tun, was ich als richtig erkenne, egal, woher der Wind weht.
Sie haben also eine Mission.
Mission oder Vision?
Beides.
Zwei grosse Worte, ich vermeide sie gewöhnlich. Aber wenn Sie so wollen: Meine Vision ist eine Kirche, die uns hilft beim Leben und – wenn es dann sein soll – beim Sterben. Dass die Kirche nicht immer so ist, weiss ich natürlich. Wir – das Bodenpersonal – sind halt auch nur Menschen, es «mönschelet» in der Kirche wie überall sonst auch. Und die Mission: Die Zusammenarbeit verstärken, voneinander lernen, Grenzen in den Köpfen niederreissen, Gräben zuschütten, wo es nur geht, zwischen den Kirchen, zwischen den Kantonen, zwischen den Konfessionen. Mehr Einheit. Streitereien untereinander können wir uns nicht mehr leisten. Und glaubwürdig werden wir dadurch auch nicht.
Sie möchten mehr Verständnis erwirken für Menschen, die mit der Kirche nicht so viel am Hut haben?
Sicher. Das wäre ja ein komisches Evangelium, das sich nur an Eingeweihte richtet! Es geht um Christus. Der konnte damals die Menschen begeistern, und er kann es immer noch. Das sage ich laut und deutlich.
Was bedeuten kann, mit dieser oder jener Meinung anzuecken.
Nicht anzuecken, wäre angenehmer, von der Bibel nur so zu reden, dass alle das schön finden. Bloss: Das wäre dann eben nicht mehr, was in der Bibel steht. Ich kann leider nicht anders, als die Dinge so zu sagen, wie ich sie verstehe, ob man sie nun gerne hört oder nicht. Ja, das ist mir wichtig, auch, weil die Kirche ja Geld kostet. Die Leute, die das bezahlen, haben Anrecht auf verständliche Aussagen, auf ein klares Profil, eben vielleicht auf einen «Leuchtturm».
Fehlen solche Leuchttürme in der reformierten Kirche derzeit, um die Leute wieder in die Gotteshäuser zu holen?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit «Leuchtturm» meine ich nicht einzelne Personen, sondern Christus selbst. Was mich selber angeht, getraue ich mich leider auch nicht immer das zu sagen, was ich doch eigentlich als christliche Botschaft in der Bibel lese. Dabei bräuchten wir dringend Menschen mit Zivilcourage, auch auf der Kanzel! Wenn Leute am Sonntagmorgen aufstehen und in der Kirche etwas zu hören kriegen, das sie nicht packt, kommen sie nicht mehr. Eine gute Predigt ist Balsam für die Seele und ein «Kick» für den Geist.
Provokativ?
Das liegt in der Natur der Sache: Die Bibel ist voller Provokationen. Das Evangelium ist angriffig, es ruft uns hinaus aus der Komfortzone.
Ein pointiertes Auftreten birgt die Gefahr, neue Fans zu gewinnen, gewisse Leute aber auch komplett zu verscheuchen.
Beides wäre falsch: Profillosigkeit und Effekthascherei. Gute Theologie macht zum Beispiel nicht selber Poltik, sie spricht vielmehr in die Politik hinein. Ausnahmen kann es geben, aber sie sollten selten sein, sonst stossen wir ständige die Einen oder die Anderen vor den Kopf. Eine Ausnahme haben wir jetzt bei der Frage der zusätzlichen Waffenausfuhr gemacht. In der Sendung «10 vor 10» habe ich klar gesagt, dass wir als Kirche damit nicht einverstanden sind.
Wieder typisch Gottfried Locher!
Einige gehen da weiter als ich. Ich wurde kürzlich kritisiert, ich müsse pointierter Politik machen. Persönlich bin ich da eher für Zurückhaltung: Wer immer aufheult, wird bald nicht mehr gehört.
Treffen Sie sich mit Ihren Kritikern?
Ja, immer wieder. Und oft haben sie auch recht, finden Unstimmigkeiten in dem, was ich sage, Fragwürdiges. Ich bin den Kritikerinnen und Kritikern dankbar, denn ich lerne von ihnen. Kritiker hat vermutlich hat jeder, der etwas bewirken will. Jedenfalls finde ich Menschen, denen niemand widerspricht, selten interessant. Es gibt fast nichts, bei dem ich sage: «Hier hatte ich auf der ganzen Linie Recht.»
Trotzdem: Sie provozieren absichtlich, um wahrgenommen zu werden.
Ich verstehe, dass das so aussehen kann, aber es stimmt nicht. Es ist das Evangelium selber, das provoziert, viel mehr, als es uns passt. Wir hätten es gerne beschaulich und harmonisch, auch in der Kirche. Aber die Bibel ist anders. Eine gute Predigt kann das Wesentliche «herausdestillieren», dass es einen beim Zuhören packt und eben provoziert. Viele können das, Pfarrerinnen und Pfarrer landauf und landab.
Provoziert haben Sie mit früheren Aussagen zum Verhältnis zwischen Mann und Frau. Ohne diese alten Geschichten aufwärmen zu wollen: Wie lautet Ihr Rollenverständnis?
Wo ich beruflich Einfluss nehmen kann, fördere ich die Gleichberechtigung. Gleichberechtigung leben wir ziemlich selbstverständlich im Kirchenbund. Wir sind in der glücklichen Lage, dass unsere Kirche schon seit Längerem Pfarrerinnen und Pfarrer hat.
Sie waren früher ab und zu im Kloster Einsiedeln. Auch das hat Ihnen Kritik eingebracht. Steht Ihnen die katholische Kirche nahe?
Kritik gibt es auch, wenn ich das Gegenteil tue, also zu den Freikirchen gehe. Beziehungspflege gehört zu meinen Kernaufgaben. Mir steht jede Kirche nahe, die versucht, den christlichen Glauben zu leben. Schliesslich sind wir keine Sekte, die meint, sie allein besitze die ganze Wahrheit. Wir können von anderen lernen, genauso wie sie von uns. Dabei lernen wir nämlich auch unsere eigene Kirche zu schätzen. Ein bisschen, wie wenn man ins Ausland geht und sich dann freut, wieder heim zu kommen.
Sie sind für vier Jahre gewählt. Unter welchen Umständen können Sie im Jahr 2022 sagen: «Ja, ich habe einen guten Job gemacht?»
Wenn unsere Kirche ein klares, ansprechendes und einladendes Profil hat. Eine Kirche, die weiss, wozu sie da ist, egal, ob sie gerade in Mode ist oder nicht. Mir geht es um Inhalt, nicht um Schein. Kleiner wird die Kirche vermutlich noch lange, und zwar nicht nur unsere. Dafür gibt es Gründe, auf die niemand Einfluss hat, zum Beispiel die demografische Entwicklung. Man muss von den Zahlen wegkommen hin zu der Sache. Vielleicht steigen die Zahlen dann sogar irgendwann wieder.
Yves Schott