Vg 9902

Ein Drittel der Sozialhilfebezüger sind Kinder und Jugendliche

Wie viele Leute betrügen die Sozialhilfe? Darf man als Armer ein Auto fahren? Und sind 977 Franken pro Monat viel oder wenig? Felix Wolffers, Leiter des Sozialamts, nimmt Stellung.

Wer kommt eigentlich aufs Sozialamt?
Leute, die nicht genug Geld zum Leben haben. Viele melden sich häufig erst dann, wenn bereits Schulden und offene Rechnungen vorliegen. Man geht eben nicht gerne aufs Sozialamt.

Konkret: Wer bezieht Sozialhilfe?
Die grösste Gruppe sind Kinder und Jugendliche. Betrachtet man die Haushaltsgrösse, so sind Einpersonenhaushalte am häufigsten vertreten. In der Stadt Bern unterstützen wir rund 6500 Personen, was eine Sozialhilfequote von etwa 5 Prozent ergibt. Die Hälfte dieser Personen ist ledig, ein Viertel geschieden.

6582 Personen bezogen 2017 in Bern Sozialhilfe

Was ist mit dem häufig gehörten Vorwurf, dass auch diese Menschen sehr wohl arbeiten können?
Der Arbeitsmarkt sucht Fachkräfte. In der Sozialhilfe haben aber mehr als 50 Prozent der Erwachsenen keine berufliche Ausbildung. Die reale Arbeitslosigkeit der Unqualifizierten im Kanton Bern liegt bei rund 11 Prozent. Deshalb ist es schwierig, beruflich nicht qualifizierte Langzeitarbeitslose in eine Stelle zu vermitteln.

Sind Leute, die Sozialhilfe beziehen müssen, nicht auch zu einem grossen Teil selbst schuld?
Etwa ein Drittel der Bezüger sind Kinder und Jugendliche – die sind sicher nicht selbst schuld an ihrer Armut. Zudem hat sich die Zahl der IV-Neurenten in den letzten Jahren halbiert. In der Sozialhilfe haben wir deshalb heute sehr viele Personen, welche zu krank für den Arbeitsmarkt sind, aber dennoch keine IV-Rente erhalten. Das ist sehr belastend für die Betroffenen. Der aller grösste Teil der Leute versucht, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Aber: Wer schon lange arbeitslos ist und zudem gesundheitliche Probleme hat, findet kaum noch selbst eine Stelle. Das gelingt meist nur, wenn wir diese Personen eng begleiten und vermitteln. Leute, welche arbeiten können, und nicht arbeiten wollen, gibt es kaum. Das Problem ist vielmehr, dass der Arbeitsmarkt diese Personen nicht mehr will.

Aber es gibt doch Sozialschmarotzer!
Die Zahl jener, die versuchen, die Sozialhilfe zu hintergehen, liegt im Bereich von etwa 1 bis 2 Prozent. Das Risiko, erwischt zu werden, ist mittlerweile sehr hoch. Wir sind sehr viel wachsamer als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, die Kontrollinstrumente wurden massiv verstärkt. Vergessen Sie nicht, dass in Verdachtsfällen auch Sozialdetektive zum Einsatz kommen. Würde man bei den Steuern so genau hinschauen wie bei der Sozialhilfe, wäre deren Finanzierung wohl kein Problem.

Welche Gruppe bereitet Ihnen am meisten Kopfzerbrechen?
Jene der über 55-jährigen Langzeitarbeitslosen. Ihre Zahl nimmt seit mehreren Jahren markant zu. Man kann diese Leute kaum mehr in den Arbeitsmarkt vermitteln, obwohl sie sehr oft überdurchschnittlich qualifiziert sind und jahrzehntelang erfolgreich gearbeitet haben. Nach dem Verlust der Stelle sind sie meist rund zwei Jahre beim RAV und werden dann ausgesteuert. Danach erhalten sie aber noch nicht Sozialhilfe, sondern müssen zuerst das Vermögen bis zu einem Freibetrag von 4000 Franken aufbrauchen. Diese Personen sind somit bereits 3 oder 4 Jahre lang weg vom Arbeitsmarkt. Das macht die Stellenvermittlung besonders schwierig.

Wieso diese Zunahme?
Eine gute Frage. Der Arbeitsmarkt scheint generell selektiver geworden zu sein. Viele Arbeitgeber bevorzugen eine junge Arbeitskraft, oft aus der EU, die erst noch günstiger arbeitet, als ein hiesiger 57-Jähriger das tun würde. Ich denke, wir haben es hier häufig mit Vorurteilen zu tun.

Der Grundbedarf liegt für eine Einzelperson, ohne Krankenkasse und Wohnungsmiete, bei 977 Franken. Ist das viel oder wenig?
Bei den Ergänzungsleistungen zur AHV oder IV liegt der Grundbedarf bei 1620 Franken. Das zeigt, dass die 977 Franken in der Sozialhilfe nicht grosszügig bemessen sind. Das Geld reicht aber für eine bescheidene Lebenshaltung. Mit der Revision des Sozialhilfegesetzes will der Kanton nun aber diesen Betrag um bis zu 30 Prozent kürzen. Damit wird das Existenzminimum unterschritten. Zum Vergleich: Die 10 Prozent Einkommens – schwächsten Haushalte geben für ihren Grundbedarf schon heute 100 Franken mehr aus als 977 Franken. Das Ziel der Sozialhilfe sollte es sein, Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Auch Bedürftige sollen sich gesund ernähren und gelegentlich einen Kaffee mit Freunden trinken, mit den Kindern einen Ausflug machen oder ein Handy haben können.

Darf man als Sozialhilfebezüger ein Auto haben?
Theoretisch ja, die Sozialhilfe zahlt aber nichts an das Fahrzeug. Und: Mit den Beträgen aus der Sozialhilfe ist es als Einzelperson fast ausgeschlossen, sich ein Auto zu leisten. Bei einer Familie ist das eher möglich, wenn man an allen Ecken und Enden sonst spart. Wenn Sie aber einen Mercedes besitzen, gilt dieser als Wertgegenstand (bei einem Wert von mehr als 4000 Franken) und muss verkauft werden.

Hat Bern ein Problem mit versteckter Armut?
Natürlich existiert eine Dunkelziffer von Menschen, die aus Scham, Nichtwissen oder psychischen Problemen keine Sozialhilfe beanspruchen. Aber irgendwann müssen die allermeisten dann tatsächlich Sozialhilfe beantragen, wenn das Geld zum Einkaufen fehlt oder die Miete nicht mehr bezahlt werden kann.

Gibt es in Bern Working Poor?
Ja. Es muss aber zwischen Familien und Einzelpersonen unterschieden werden. Einzelpersonen, die 100 Prozent arbeiten, haben kaum je Anspruch auf Sozialhilfe. Auch tiefe Löhne liegen meist über 3500 Franken. Das ist zwar nicht viel, aber deutlich höher als der Existenzbedarf in der Sozialhilfe von rund 2200 Franken. Bei Familien kommt es hingegen immer wieder vor, dass auch bei einem hohen Arbeitspensum das Geld nicht reicht. Stundenlöhne von weniger als 20 Franken sind bei unqualifizierten Arbeitskräften leider keine Seltenheit.

Was ist mit der viel zitierten Altersarmut?
Ab 65 sind noch 0,3 Prozent der Menschen in der Stadt Bern von Sozialhilfe abhängig – also sehr wenige. Die soziale Sicherheit wird hier durch AHV, zweite Säule und Ergänzungsleistungen fast zu hundert Prozent gewährleistet. Vor allem die Ergänzungsleistungen sind wichtig zur Verhinderung von Altersarmut.

Welche Beschäftigungsprogramme bietet das Sozialamt an?
Im Kompetenzzentrum Arbeit in der Lorraine kümmern sich über 100 Mitarbeiter von uns um die Arbeitsintegration. Wenn möglich vermitteln wir die Leute direkt in den Arbeitsmarkt. Das gelingt unter anderem dank unserem Netz von mehr als 350 Partnerbetrieben in der Wirtschaft. Wir arbeiten zudem mit Einarbeitungszuschüssen: Wir bezahlen den Betrieben während eines halben Jahrs 40 Prozent der Lohnkosten und schaffen so einen Anreiz, Personen aus der Sozialhilfe anzustellen. Wer nicht in den Arbeitsmarkt vermittelt werden kann, wird in Nonprofit-Organisationen oder in unseren internen Betrieben – beispielsweise in den Velostationen im Bahnhof – eingesetzt. Diese Personen erhalten weiterhin Sozialhilfe und zusätzlich eine Integrationszulage von 100 Franken pro Monat.

Empfinden Sie Mitleid?
In der Bundesverfassung steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Sozialhilfe ist deshalb nicht eine Frage des Mitleids, sondern der Solidarität. Wir können und müssen uns eine anständige Sozialhilfe leisten. Diese ist mit Abstand das günstigste soziale Sicherungssystem, sie verursacht bloss 1,6 Prozent der Gesamtkosten der sozialen Sicherheit. Günstiger geht es nicht.

Yves Schott

Weitere Beiträge

Weitere Beiträge