Sie knien flehend am Boden und machen die hohle Hand: Mit dem Herbst beginnt die Zeit der Bettler. Oft kommen sie nun aus Nachbarländern. Wieso? Und wie dramatisch ist die Situation wirklich?
Ein Augenschein in Bern.
Mittags um 12 Uhr in den Gassen von Bern: Leute sitzen auf Bänken oder Bordsteinen und beissen hungrig in ihre Sandwiches. Während ihnen dabei die goldene Herbstsonne ins Gesicht scheint, macht sich ein Team der Fremdenpolizei auf einen der regelmässigen Kontrollgänge zu jenen Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Sie sind als Dreiergespann in Zivil unterwegs, wobei eine Person vorausgeht und sich die anderen im Hintergrund halten, um nicht offensiv aufzutreten. Man setzt auf Gespräche.
Zwischen den umhereilenden Geschäftsleuten erblicken sie in der Marktgasse einen jungen Mann, der auf dem Boden sitzend um Almosen bettelt. Es folgt das übliche Prozedere: Sie gehen auf ihn zu, befragen ihn nach seiner Situation, kontrollieren und registrieren dessen Identität – und verabschieden sich, denn in Bern existiert kein Bettelverbot. Damit würde das Problem nur verlagert, beurteilt Alexander Ott, Co-Leiter Polizeiinspektorat und Vorsteher Fremdenpolizei der Stadt Bern. Dies zeige das jüngste Beispiel der Stadt Lausanne, die das Bettelverbot einführte, um es kurz darauf wieder aufzuheben. «Armut lässt sich nicht mit Bussen bekämpfen, diese beschleunigen die soziale Abwärtsspirale nur noch», resümiert Ott.
Globale Krisen werden lokal sichtbar
Die Patrouille hat den 18-jährigen Rumänen dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen, woraufhin er seine Siebensachen zusammenpackt. Sie weisen ihn darauf hin, dass er die erforderlichen Voraussetzungen zum bewilligungsfreien Aufenthalt nicht erfüllt. Die Verständigung erfolgt wie so oft mit Händen und Füssen, denn ausländische Bettelnde beherrschen meist ausschliesslich ihre Muttersprache.
Diese mangelnden Sprachkenntnisse oder gar Analphabetismus und das Unwissen über die Hilfsangebote durch Botschaften oder Institutionen verunmöglichen deren (Arbeits-)Integration: «Diese Menschen sind Opfer der Politik in ihren europäischen Herkunftsländern – und der Aneinanderreihung von Krisen in den letzten zwei Jahren. Um die lokale Problematik zu verstehen, müssen wir prospektiv betrachten, was global geschieht», veranschaulicht Ott.
Die Schere von Armut und Reichtum öffnet sich weiter – zunehmend auch «vor unserer Haustür»: Zusätzlich zu den Bettelnden aus Osteuropa, oft als mafiöse Clans organisiert, offenbart sich seit wenigen Wochen ein völlig neues Phänomen. Die bettelnden Menschen kommen aus Ländern, in denen wir die Herbstferien geniessen: Die «schnorrenden» Frauen und Männer stammen immer häufiger aus Spanien, Italien oder Frankreich, wie Tamedia berichtete. Meist waren sie in ihrer Heimat im Tieflohnsegment erwerbstätig, das im Zuge der Pandemie eingebrochen ist und in dem – aufgrund der globalen Migrationsbewegungen – ein ausbeuterischer Verdrängungskampf tobt: Arbeitgebende ersetzen günstige Arbeitskräfte durch billige.
Ein Sozialnetz, wie jenes in der Schweiz, vermag sie nicht aufzufangen, hinzu kommt die Teuerung, was sie schliesslich zur Einreise in die Schweiz treibt. «Westeuropäer:innen wollen sich hier keine neue Existenz aufbauen, sondern jene ihrer Familie zuhause sichern», erklärt Ott. «Sie begeben sich nicht auf Stellensuche, obwohl sie dies im Sinne der Personenfreizügigkeit tun könnten. In Bern muss niemand auf der Strasse leben.»
«Bei diesen Menschen ist die Klimakrise längst angekommen», stellt Ott fest. Als beispielsweise Spanien und Portugal diesen Sommer unter extremer Dürre litten, entbrannte ein Kampf ums Wasser – diesen gewinnen eher Grossbetriebe als Kleinbauern. «Es braucht ein neues Bewusstsein dafür, wie und was wir konsumieren. Wir müssen den Vermögensbegriff neu definieren: Statt Geld sollten wir vielmehr Indikatoren wie Infrastruktur oder sauberes Wasser als ‹Vermögen› betrachten.»
Die Masche mit den Rosen
Doch wie kommentiert der Vorstehende der Fremdenpolizei jüngste Meldungen, dass Bettelnde immer aggressiver auftreten? «Es handelt sich um Einzelfälle, die nicht zu verharmlosen sind, jedoch nicht die Gesamtsituation repräsentieren.» Die «Rosenmasche» sei problematisch, bei der Leute scheinbar Rosen als Geschenk abgeben und anschliessend Geld einfordern. Passant:innen fühlten sich dadurch zwar bedrängt, doch «zu Tätlichkeiten ist es nie gekommen», stellt Ott klar.
Einen solchen «Rosenverkäufer» hält die Patrouille in der Aarbergergasse an: Mit einer überfälligen Busse aus Lausanne ist er nach Bern weitergezogen, weshalb ihn die Fremdenpolizei für weitere Abklärungen auf den Posten mitnimmt. «Ruhiger dürfte es in einer Stadt doch gar nicht sein …?», fragt Ott rhetorisch.
Daniela Dambach