Es war ein Abend, wie ihn so (fast) niemand erwartet hatte. Überraschend? Vielleicht sogar denkwürdig? Auf jeden Fall ziemlich ungewöhnlich. Den Sonntag, 29. November 2020, wird in Bern so schnell kaum jemand vergessen.
Diesmal reicht es, ganz bestimmt. Der 29. November ist der Tag, an dem sich die Bürgerlichen den verlorengegangenen Sitz von Alexandre Schmidt (FDP, 2012-2016) zurückholen. Mit Bernhard Eicher oder Thomas Fuchs. Doch was ist in diesem Corona-Jahr schon normal? Und natürlich kommt alles anders. Das Protokoll eines Abends, an dem die einen frenetisch jubeln und andere ungläubig den Kopf schütteln.
Sonntagnachmittag im Berner Rathaus. In ein paar Stunden werden hier die Wahlresultate verkündet. Normalerweise herrscht ein emsiges Kommen und Gehen – diesmal nicht. Wegen Corona ist der Zutritt zum Gebäude limitiert. Wer rein will, muss nebst seinem Badge die Zutrittszeit ausweisen. Auf die Minute genau.
TeleBärn ist da, weitere Medien ebenfalls. Politologe Adrian Vatter analysiert fürs Fernsehen, fast pausenlos. Sonst allerdings: gähnende Leere. So etwas wie Stimmung, Atmosphäre? Fehlanzeige. Unterbrochen wird die Stille bloss ab und an von den metallenen Kleiderbügeln beim Eingang, die, wenn sie jemand berührt, einen sonderbar traurigen Klang von sich geben.
Aber wo sind die Gemeinderatskandidatinnen und -kandidaten, wo die amtierenden Exekutivmitglieder? Spurensuche in der Altstadt. Wir finden Bernhard Eicher (FDP) und Simone Richner (Jungfreisinn) im Restaurant Più am Kornhausplatz. Die SVP-Fraktion genehmigt sich ein deftiges Mahl im Café Parlament beim ehemaligen SP-Stadtrat Hasim Sönmez.
Im Rathaus werden derweil Abstimmungsresultate publiziert. Bernerinnen und Berner nehmen die Konzernverantwortungsinitiative mit fast 75 Prozent deutlich an. Das städtische Budget wird mit knapp 73 Prozent durchgewunken. Die Zeichen stehen also auf Links. Könnte das für die Bürgerlichen ein schlechtes Omen sein?
Alec von Graffenried, der Erste
Es ist etwa 20 Uhr, als Sicherheitsdirektor Reto Nause durch die dunklen, vernebelten Gassen huscht. Er trifft sich mit seinen Gemeinderatsgspänli im Erlacherhof. Der CVP-Mann wirkt etwas nervös – kein Wunder: Nause steht auf der Kippe, eine Abwahl liegt im Bereich des Möglichen.
Von den Top-Kandidat*innen für die Stadtregierung trifft Marianne Schild als Erste im Rathaus ein. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet, dazu leuchtend weisse Turnschuhe. Outfit: passt. Kurz darauf folgt BDP-Shootingstar Claudio Righetti. Er trägt ein blau-schwarzes Sakko, dazu eine beige Hose. Ja, der Mann weiss, wie man sich kleidet. Ob er nervös ist? «Das bin ich nie», meint der Marketingstratege lachend.
21.30 Uhr. Noch 15 Minuten bis zur Bekanntgabe der Gemeinderatsresultate. Thomas Fuchs unterhält sich mit Parteikollege und Stadtrat Janosch Weyermann, einige Zeigerumdrehungen später stossen Eicher und Richner dazu. Ihr Babybauch ist mittlerweile kaum mehr zu übersehen. Kein Wunder: Die 35-Jährige ist im sechsten Monat schwanger. Gemeinderäte? Fehlanzeige.
21.40 Uhr. Nach wie vor ist nichts von Berns Regierenden zu sehen. Um Punkt 21.45 Uhr treffen sie endlich ein. Stapi Alec von Graffenried füllt das Corona-Formular als Erster aus. Dann folgen Reto Nause, Franziska Teuscher und Michael Aebersold. Auch SP-Kandidatin Marieke Kruit ist jetzt da.
Einige Augenblicke später werden die Ergebnisse verlesen. Für das «BüBü» (Bürgerliches Bündnis) kommt der Hammer gleich zu Beginn: «Liste 1. Nicht gewählt ist mit 13094 Stimmen: Bernhard Eicher», hallt es durch den Raum. Rund 2500 Stimmen weniger gehen an Thomas Fuchs. Richner hält sich mit 6583 Stimmen wacker. Ein paar Sekunden danach wird klar: Reto Nause ist wiedergewählt. Wäre ein Stein von seinem Herzen gefallen, er hätte eine dicke Beule in den Boden gezimmert.
Der Rest ist rot-grünes Schaulaufen . Teuscher, von Graffenried und Aebersold dürfen ihren Platz im Gemeinderat behalten, Marieke Kruit schafft ein Glanzresultat und schlägt bei ihrer Premiere sogar den Stadtpräsidenten um fast 400 Stimmen. Ein (linker) Politiker, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt dem Bärnerbär: «Wir hätten heute auch Dschingis Khan aufstellen können und die Leute hätten ihn gewählt.»
Bald kehrt wieder Ruhe ein
Der Interviewmarathon danach wird für Teuscher und Co. zur Kür, für die Bürgerlichen zur Qual. «Meine Frau und ich werden uns heute Abend sicher ein Gläschen Wein gönnen», frohlockt etwa Michael Aebersold. Bernhard Eicher hingegen muss sichtlich enttäuscht eingestehen: «Offenbar haben wir unsere Wählerinnen und Wähler nicht gut genug mobilisieren können.»
Kurz darauf kehrt im Rathaus Ruhe ein. Wieder- und Nichtgewählte haben sich um etwa 22.30 Uhr bereits wieder verzogen. Nur aus dem oberen Stock hingegen dringt noch Licht und hastiges Klicken: Die Journalisten greifen in die Tasten und schreiben ihre Berichte.
SVP-Hess stösst auf Nause an
Laut wird es dafür kurz vor 23 Uhr im «Kramer». Reto Nause betritt den Raum und lässt sich von seiner Anhängerschaft Coronakonform bejubeln. Man trägt «Nause Rocks»-Masken, die Welle wird zelebriert, der Wirt gibt eine Runde Shots aus, SVP-Nationalrat Erich Hess stösst ebenfalls an. Um 23 Uhr heisst es: Schotten dicht. Für die einen hätte an diesem Abend noch lange weitergefeiert werden dürfen. Andere sind froh, dass Covid-19 ihren Arbeitstag weniger prominent inszeniert hat als sonst üblich. Mit etwas Kopfschmerzen dürften am Montagmorgen indes wohl alle aufgewacht sein.
Yves Schott