30 Jahre Räumung Offene Drogenszene Kocherpark

«Ende der 80er wurde vieles probiert, das nicht funktionierte»

Interviewtermin mit Rahel Gall im Kocherpark. Nicht zufällig. Vor 30 Jahren wurde dort die offene Drogenszene aufgelöst. Solche Exzesse sind zwar dank kombinierter Angebote kaum mehr sichtbar verschwunden sind die Probleme aber nicht.

Rahel Gall, wie haben Sie persönlich vor 30 Jahren die offene Drogenszene im Kocherpark erlebt?
Ich war damals 20-jährig und studierte an der Universität Freiburg Sozialarbeit. Es war ein permanentes Thema und es wurde uns bewusst, dass wir hier ein riesiges gesellschaftliches Problem haben. Es herrschte aber auch eine Ratlosigkeit, nicht nur in der Politik. Wie gehen wir damit um? In den 80er-Jahren bis anfangs der 90er-Jahre wurde vieles probiert, das nicht funktionierte.

Geht es den Drogenabhängigen heute besser als vor 30 Jahren?
Das kann man nicht generalisieren. Die Verelendung ist heute nicht mehr so schlimm wie vor 30 Jahren. Aber der grosse Unterschied zu damals besteht darin, dass wir heute eine gute, etablierte Suchthilfe mit einem adäquaten Angebot haben. So betrachtet geht es diesen Menschen besser als vor 30 Jahren.

Gibt es Menschen, die damals drogenabhängig waren und heute ein normales Leben führen?
Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber es gibt viele, die den Ausstieg geschafft haben. Es gibt auch eine relativ grosse Gruppe, mehrheitlich Männer, die zu Kocherparkzeiten mit dem Konsum begannen und heute noch abhängig sind, die sind heute zwischen 45- und 60-jährig und Klienten in unseren Anlaufstellen. Es gibt auch solche, die nach wie vor unter einer Abhängigkeitskrankheit leiden, die aber mit Methadon oder anderen Medikamenten eine stabile Lebenssituation haben, integriert und berufstätig sind.

Was sind die häufigsten Risikofaktoren, um drogenabhängig zu werden?
Es sind immer verschiedene Einflussfaktoren, welche dazu führen, ob jemand eine Sucht entwickelt oder nicht. Ich denke an Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstwertgefühl und Frustrationstoleranz. Aber auch das Umfeld, die familiären Verhältnisse, die Arbeitssituation sind massgebend. Die Erreichbarkeit der Droge spielt ebenfalls eine Rolle. Weiter gibt es Substanzen, die schneller oder weniger rasch abhängig machen. Es ist also ein Zusammenspiel dieser Faktoren, das letztlich zur Abhängigkeit führt.

Aber sind nicht gerade die pubertierenden Jugendlichen zwischen 12 und 15 Jahren besonders gefährdet? Sie sind in einem Alter, wo sie vor allem mit ihrer eigenen Entwicklung beschäftigt sind.
Das ist zweifellos so. Kommt dazu, dass die Jungen gerne ausprobieren. Sie sind neugierig, das vermeintliche Abenteuer lockt, wirkt attraktiv und spannend. Neugierde in diesem Alter ist gut und gehört dazu. Wenn nun jemand in diesem Alter aber mit dem Drogenkonsum beginnt, ist das Umfeld enorm wichtig. Wie reagiert dieses? Wie hat sich die konsumierende Person selber im Griff?

Bei Drogen denkt der Laie sofort an Heroin. Ist das immer noch so?
Nein, zurzeit ist Heroin mengenmässig im Vergleich mit anderen Drogen eher eine Randerscheinung. Es sind die älteren Drogenabhängigen, die heute noch Heroin konsumieren.

Welche Drogen bereiten denn heute Sorgen?
Kokain wird heute sehr häufig konsumiert, aber auch Ecstasy ist vor allem bei Jugendlichen verbreitet. Die jeweils am häufigsten verwendete Substanz ist zugleich immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Zurzeit leben wir in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Man will deshalb nicht nur bei der Arbeit, sondern auch bei einer Party fit sein, durchhalten können. Darum sind jene Substanzen beliebt, welche dieses Gefühl vermitteln.

Wie gross ist das Abhängigkeitspotenzial bei Kokain?
Heroin macht rascher abhängig als Kokain. Die Mehrheit der Kokain konsumentinnen und -konsumenten entspricht nicht dem Bild, das wir von Drogenabhängigen haben. Sie nehmen Kokain über Jahre kontrolliert ein, sind integriert und berufstätig. Damit möchte ich Kokain aber keineswegs verharmlosen, das ist mir sehr wichtig! Es ist ein Suchtmittel, kann abhängig machen und ist tückisch. Man spricht von Abhängigkeit, wenn wesentliche Elemente des Lebens wegen des Drogenkonsums nicht mehr funktionieren und die Person nicht mehr in der Lage ist, aufzuhören oder zu reduzieren.

Ist Methadon nach wie vor das Wundermittel, um von Heroin wegzukommen?
Methadon ist eines der Medikamente, das vielen Menschen ermöglicht, trotz ihrer Suchtkrankheit stabil und uneingeschränkt leben können.

Wäre nicht auch das Ziel, einmal von Methadon wegzukommen, um ohne Medikamente leben zu können?
Das betrachtet man ganz individuell. Es gibt Personen, bei denen dies das Ziel ist: Zuerst weg vom Heroin und umsteigen auf Methadon, dann langsam das Methadon abbauen bis null. Es gibt aber Menschen, bei denen das nicht funktioniert, weil sie einen anderen Krankheitsverlauf haben und daher immer auf das Medikament angewiesen sind.

Die Schweizer Suchtpolitik basiert heute auf dem Viersäulenprinzip: Prävention, Repression, Therapie und Schadensminderung. Welche Erfahrungen machen Sie damit?
Parallel zur Räumung des Kocherparks hat man die Menschen damals gezielt diesen Unterstützungsangeboten zugewiesen. Die Kombination aller vier Säulen bewirkt, dass die Suchthilfe in der Schweiz heute so gut funktioniert.

Erklären Sie uns doch bitte dieses Säulenprinzip!
Bei der Prävention geht es darum, dass Menschen erst gar nicht drogenabhängig werden, und zwar durch Aufklärung und Sensibilisierung. Die Therapie will, dass jemand den Konsum reduziert oder abstinent wird. Bei der Repression geht es darum, die Gesetzesbestimmungen umzusetzen, das heisst mit Polizeiarbeit illegale Substanzen zu verfolgen und den Markt zu durchbrechen. Bei der Schadensminderung  die Stiftung Contact ist das Kompetenzzentrum dafür – wollen wir die Suchtschäden sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft so weit als möglich reduzieren. Hier denke ich beispielsweise an eine Methadon-Therapie, an Arbeitsangebote für Süchtige, damit sie eine Tagesstruktur kriegen, an unterstützende Wohnangebote oder an Drug Checking.

Drug Checking?
Es gibt Menschen, die Drogen konsumieren wollen oder nicht aufhören können. Ein Verbot hilft erfahrungsgemäss nicht immer. Deshalb bieten wir eine Substanzanalyse durch ein Labor an. Wichtig ist, dass die Konsumentinnen und Konsumenten wissen, was sie konsumieren, mit welchen Risiken sie zu rechnen haben. Wir liefern ihnen quasi einen Beipackzettel. Anhand der Laborresultate warnen wir vor zu hohen Dosierungen oder raten ganz von der Einnahme ab.

Werden Sie angefeindet von Politik, Gesellschaft oder anderen Playern?
Nein, im Gegenteil. Ich erlebe eine meist offene Haltung und eine grosse Wertschätzung. Hingegen beobachte ich oft Menschen, die kein Verständnis haben für die Logik der Schadensminderung. Es gibt nun einfach Süchtige, die durch ihre Krankheit nicht in der Lage sind, von der Substanz wegzukommen. Deshalb braucht es die Säule «Schadensminderung». Diese hilft nicht nur den Kranken selbst, sondern entlastet auch den öffentlichen Raum.

Wie steht es um die Stigmatisierung von Randständigen in der Stadt Bern?
Was wir von den Betroffenen mitkriegen, muss ich diese Frage bejahen. Die Randständigen sind halt sicht- und hörbar im öffentlichen Raum. Es ist widersprüchlich: Eigentlich ist man tolerant gegenüber Personen am Rande der Gesellschaft, aber nur solange sie sich nicht vor der eigenen Haustür aufhalten. Ich wünsche mir diesbezüglich mehr und vor allem echte Toleranz.

Peter Widmer

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