Seit drei Monaten ist Beatrice Simon Regierungspräsidentin des Kantons Bern. Weshalb sie ihre Amtskollegen siezt, warum sie nie eine Quotenfrau sein möchte und wieso eine Geiss in der Küche sie begeistert.
Sind Sie schon ein wenig wehmütig?
Am letzten Tag wird bei mir sicher Wehmut aufkommen, dafür gefällt es mir hier zu gut. Ich habe allerdings immer erklärt, nach drei Legislaturen aufzuhören.
Sie dürften theoretisch weitermachen.
Endlos, ja (lacht). Das wird parteiintern geregelt, wobei bei uns keine solche Regelung existiert. Sogar die Altersguillotine wurde aufgehoben. Dennoch ich bin überzeugt, dass es nach zwölf Jahren in einem solchen Gremium neue Impulse braucht.
Durch Ihren Rücktritt gibt es im Regierungsrat möglicherweise einen Wechsel hin zu einer rot-grünen Mehrheit.
Das haben Wahlen so an sich. Natürlich hoffe ich, dass Astrid Bärtschi meine Nachfolgerin wird. Auch, weil sie die einzige Bürgerliche Frau in der kantonalen Exekutive wäre.
Sie haben einst für die SVP politisiert. Das wirkt aus heutiger Sicht, da Sie Mitglied der Mitte sind, fast ein wenig surreal.
Was hat die Schweiz stets stark gemacht? Sich mit links und rechts zu arrangieren. Das eine Mal lancieren die Grünen einen guten Vorstoss, das andere Mal die SVP. Nur im einen oder anderen Lager fndet man selten Lösungen. Deshalb erachte ich den Namen Die Mitte als sehr passend. Bloss ist die Haltung, sich zu zusammenzuraufen, in jüngster Zeit leider etwas verlorengegangen.
Sie sind innerhalb der Kantonsregierung also das Scharnier.
Die Leute würden staunen, wenn sie unsere Diskussionen mitverfolgten. Da lässt sich häufg gar keine Parteizugehörigkeit erkennen. Deswegen nehmen hier selten Personen mit extremen Ansichten Einsitz. Es geht darum, einen tragbaren Konsens zu erarbeiten.
Immer wieder ist zu hören, wie gut die Stimmung im Regierungsrat sei. Klingt fast ein wenig nach Kuschelzoo.
(Lacht laut) Ich versichere Ihnen, dass wir während der Pandemie viele Sitzungen abhielten, bei denen wir uns überhaupt nicht einig waren. Trotzdem ist es uns gelungen, als Team eine Lösung zu realisieren. Sicher: manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Herzblut. Doch wir waren uns unserer Verantwortung stets bewusst. Nein, von Kuschelzoo kann keine Rede sein. Hilfreich ist dabei sicher, dass wir uns mit dem Titel ansprechen.
Sie siezen sich untereinander?
Ja. Wenn ich sage: «Herr Baudirektor!», dann ist es ein Disput zwischen Amtsträgern, aber nicht zwischen Menschen. Verlassen wir den Raum, duzen wir uns wieder. Das funktioniert hervorragend.
Auf Ihrer Website bezeichnen Sie sich unter anderem als «kantonales Kassenfröilein». Damit sorgen Sie bei zahlreichen emanzipierten Frauen garantiert für einen dicken Hals.
In dieser Diskussion muss man aufpassen, gelassen zu bleiben und den Schalk nicht zu verlieren. Wieso der Ausdruck? Ein guter Freund meinte einst: «Und jetzt kommt das Kassenfröilein.» Ich brach in schallendes Gelächter aus. Das ist alles andere als wertend gemeint. Im Appenzell gibt es den Säckelmeister. Na und? Der Begriff «Kassenfröilein» hat nichts damit zu tun, ob ich eine selbstständig denkende und handelnde Frau bin, die Männern gleichgestellt ist.
Für viele gehören zur Gleichstellung Quoten.
Für mich eben nicht.
Wieso?
Ich habe vier Ämter in meiner Direktion und würde gerne mehr Frauen in den entsprechenden Geschäftsleitungen beschäftigen. Was ich hingegen oft erlebe, ist, dass sich Frauen für den Job bewerben, gut im Rennen liegen und sich dann im letzten Moment zurückziehen. Wenn ich nach dem Grund frage, heisst es häufg, es sei eben schon ein bisschen viel Verantwortung und sie würden lieber aus der zweiten Reihe heraus agieren. Uns Frauen stehen sämtliche Möglichkeiten offen, wir müssen nur genug Selbstvertrauen zeigen. Ich persönlich möchte jedenfalls nie eine Quotenfrau sein.
Wären die Grundvoraussetzungen anders, würden sich Frauen möglicherweise mehr wagen. Stichwort Elternzeit statt Mutter- und Vaterschaftsurlaub.
Eine meiner beiden Töchter hat ein Kind, wahrscheinlich folgt später ein zweites – soeben hat sie in einem Treuhandbüro eine Topstelle zugesprochen erhalten. Ich will nicht ausschliessen, dass in der Privatwirtschaft Frauen, die im gebärfreudigen Alter sind, diskriminiert werden. Ich hingegen erlebe es wie eben beschrieben anders. Und es sind nun halt einmal die Frauen, die Kinder kriegen. Zum Glück, sonst würden wir wohl aussterben. Männer würden sich diesen Schmerz kaum antun. Nierenkoliken sollen dem Geburtsschmerz übrigens sehr ähnlich sein (lacht).
Verhelfen Gendersternchen zu mehr Gleichberechtigung? Gemäss Studien fühlen sich zahlreiche Frauen durch die männliche Schreibweise ausgeschlossen.
Ich habe mich in meiner 1. August Rede intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Gesetzestexte mit beiden Geschlechterformen etwa sind praktisch unleserlich. Allein durch die Sprache ist niemand emanzipiert. Zudem sorgt die Debatte für einiges an Verwirrung. Ich habe Männer erlebt, die mir sagten: «Du siehst heute gut aus.» Und kurz darauf: «Darf ich das überhaupt noch sagen?» Das fnde ich schlimm. Wenn wir nicht mehr so reden dürfen, wie uns der Schnabel gewachsen ist, verkümmert die Sprache. Das hat mit sexueller Belästigung nichts zu tun. Gleichberechtigung passiert für mich an einem anderen Ort als mit Gendersternchen. Vielleicht noch etwas in diesem Zusammenhang.
Bitte.
Ich habe meine Töchter wirklich zu Selbstständigkeit erzogen. Und doch meint eine von ihnen kürzlich: «Du Mami, ich habe ein Stelleninserat entdeckt, erfülle allerdings einige Kriterien nicht.» Ich entgegnete: «Was habe ich denn in den letzten Jahren denn ständig gepredigt?» Scheinbar funktionieren wir Frauen einfach so und sind in gewissen Situationen defensiver.
Das hat doch damit zu tun, dass jungen Mädchen, beispielsweise auf dem Spielplatz, geraten wird, vorsichtig zu sein, während Buben von Anfang an die Starken sein sollen.
Als ich Kind war, existierte das Wort Genderdiskussion noch nicht einmal. Dennoch bin ich zu dem geworden, was ich heute bin. Insofern stimmt diese These, jedenfalls bei mir, nicht. Menschen haben ihre Eigenarten, das lässt sich auch psychologisch erklären, etwa bei Lernschwächen. Entwicklungen verlaufen bei Buben und bei Mädchen anders, das ist normal.
Eine unüberwindbare Tatsache?
Nein! Aber erfolgreich kann trotzdem jeder sein.
Themawechsel: Ihre Amtskollegen Christoph Ammann und Pierre Alain Schnegg sowie Stapi Alec von Graffenried halten einen vierten Lockdown für praktisch ausgeschlossen.
Das sehe ich genau so. Weil die Bevölkerung ihn kaum mehr mittragen würde.
Ein paar aktuelle Fragen zum Schluss: Soll die Schweiz Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen?
Das ist eine Diskussion, die auf nationaler Ebene stattfnden muss. Die Schweiz soll sich in dem Ausmass, in dem sie Verantwortung übernehmen kann, humanitär einsetzen. Dazu gehört auch die Aufnahme von Flüchtlingen.
Sollte in Bern wieder ein 1. August-Feuerwerk organisiert werden?
Meine Grosseltern wohnten in der Nähe der Gurtenbahn-Mittelstation. Als Kind habe ich es stets genossen, von dort aus das Feuerwerk zu betrachten. Andererseits weiss ich als ehemalige Hundebesitzerin, was das für Probleme mit sich bringt. (Überlegt kurz) Ja, ein Feuerwerk wäre schön, es muss ja nicht immer ein pompöses sein.
Würden Sie Kurzstreckenfüge verbieten?
Ich bin gegen Verbote und für Anreize. Ich reise nächstens mit dem Zug nach Südfrankreich. Es existieren gute Verbindungen, das Angebot war allerdings schon mal besser. Ein Ausbau wäre wünschenswert. Ich selbst bin schon lange nicht mehr gefogen. Weniger aus ideologischen Gründen, sondern weil ich der Meinung bin, dass sich das Flugzeug auf kürzeren Distanzen zeittechnisch nur selten lohnt.
Darf man noch Fleisch essen?
Ich esse gerne Fleisch, dazu stehe ich, aber nicht mehr jeden Tag. Es «glustet» mich nicht mehr, es gibt ausserdem etliche feine vegetarische Gerichte. Vegan fnde ich anstrengend, entscheiden soll aber jeder für sich.
Da Sie Finanzdirektorin sind – was ist das Teuerste, das Sie sich im vergangenen Jahr geleistet haben?
(Überlegt) Ein Bild von Björn Zryd, ein Künstler aus Adelboden. Das Motiv ist ein Tannenzapfen mit blauem Hintergrund. Von ihm besitzen wir schon ein Bild mit einer Geiss, das genau in unsere Küche gepasst hat. Ein tolles Sujet.
Yves Schott