Wir treffen uns nicht im Bellevue oder Schweizerhof, auch nicht im Palace in Gstaad oder im Jungfrau-Victoria in Interlaken.
Für unser Gespräch hat «Bärni» von Tscharner – typisch für ihn – in einer Quartierbeiz einen Tisch reserviert, auf der Karte steht gut-bürgerliche Küche, von der Bratwurst mit Rösti bis zum Cervelat-Salat. Bernhard von Tscharner wählt Curry-Pouletgeschnetzeltes, dazu Mineralwasser und ein Glas roten Yvorne, zum Abschluss gibt es noch einen Espresso. Damit ist schon einiges über Bernhard von Tscharner gesagt, es muss nicht Chateaubriand und Château Margaux sein. Bescheidenheit ist einer der Charakterzüge des wohlhabenden Berner Patriziers, der oft auch mit einem elfjährigen Fiat 500 oder einem Smart in den Strassen von Bern unterwegs ist. Hier und dort wird er erkannt, das Personal ist freundlich, aber nicht überfreundlich, man weiss, dass dies beim hohen Gast, der hin und wieder hier einkehrt, nicht gut ankäme. Extrawürste mag er nicht, er gibt sich auch hier so wie es seinem Charakter entspricht – bescheiden und zurückhaltend.
Bernhard von Tscharner, morgen feiern Sie im Kreis Ihrer besten Freunde den 70. Geburtstag. Was bedeuten Ihnen Freunde?
Ich lege grossen Wert auf Harmonie. Da ist zuerst die Familie, meine beiden Schwestern, Neffen und Nichten. Sehr wichtig sind mir auch Freunde. Sie stehen zu Dir, sind da, wenn man sie braucht, beispielsweise, wenn man krank ist. Freunde sind wie Sterne. Man sieht sie oft nicht, aber sie sind immer da. Dann gibt es die Kollegen, auch sie sind ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben.
Sie sind im Schloss Morillon aufgewachsen. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit zurück in einer Adelsfamilie?
Zuerst einmal: Ich bevorzuge, wenn Sie Villa Morillon sagen, für mich ist dies zutreffender als Schloss Morillon. Geboren bin ich übrigens an der Chutzenstrasse, denn mein Vater liess in diesen Jahren die Villa umbauen. Die Aussenfassade, die denkmalgeschützt ist, blieb stehen. Ursprünglich waren alle Wohnräume Richtung Stadt ausgerichtet. Er liess während drei Jahren alles originalgetreu um 180 Grad drehen ohne sonst etwas zu ändern. Der Grundriss ist auch heute, 70 Jahre später, immer noch genau gleich. Ich weiss, dass meine Grosseltern, die im Winter an der Marktgasse wohnten, Morillon als Sommersitz nutzten und jeweils mit Pferd und Kutsche von der Stadt ins Morillon zogen. Ich erinnere mich auch noch gut an meine Zeit als Pfadfinder. Ich war bei den Patria im Stamm Mannenberg bei den gelb-schwarzen, im Fähnli Dachs im 10. Trupp.
Akzeptierte das Ihre Mutter?
Die Idee kam von meiner Gotte, meine Mutter war damit einverstanden. Mein Vater dachte, das sei eine gute Vorbereitung aufs Militär und könne mir nicht schaden.
Vor kurzen haben Sie das Morillon nach beinahe 70 Jahren verlassen. Weshalb?
Dies wäre zu Lebzeiten meiner Eltern kaum möglich gewesen. Aber ich wollte in meinem Leben noch etwas ändern. Jetzt wohne ich statt in einer altehrwürdigen Villa in einer modernen Wohnung in der Nähe meiner jüngeren Schwester und einigen Freunden. Das gefällt mir und ich geniesse mein neues Leben.
Wie muss man sich Ihre Jugend vorstellen? Wie lief das in einer Patrizierfamilie ab?
Ich wurde ziemlich streng erzogen. Nach der vierten Klasse schickten mich die Eltern in eine Privatschule, ins Humboldtianum. Dort war ich nicht sehr erfolgreich, weil ich oft die Stunden schwänzte und statt dem Unterricht zu folgen, am nahegelegenen Kiosk Herrn Eicher half, Früchte, Gemüse und Nüsse zu verkaufen. Dies hatte zur Folge, dass mich die Eltern ins Internat Rosenberg nach St. Gallen brachten, wo ich mit drei Amerikanern ein Viererzimmer teilte. Ich sprach kein Englisch, es gefiel mir nicht.
Wie ging es weiter?
Ich rief zuhause an, sagte, man solle mich abholen. Mein Vater erwiderte, ich solle etwas Geduld haben, sie kämen dann vorbei. Wunderbar, dachte ich, endlich wieder nach Bern. Doch alles kam anders. Meine Eltern holten mich zwar ab, brachten mich jedoch statt nach Bern ins Lyceum Alpinum in Zuoz.
Und dort gefiel es Ihnen endlich?
Ja, sehr, weil wir nur morgens Schule hatten und am Nachmittag Sport auf dem Programm stand. Leichtathletik, Tennis, Schwimmen und Cricket, im Herbst auch Landhockey, im Winter Ski und Langlauf. Ich wurde ein guter Sportler, qualifizierte mich sogar für die Bündner Mittelschulmeisterschaften, weil ich über 80 und 400 Meter gute Zeiten lief. Sport gefiel mir auch später. Ich spielte Curling in Saanenmöser und dann in der Berner Curlinggesellschaft, deren Präsident ich acht Jahre war. Ich erinnere mich noch gut. Mein Skip Hans Lüscher sagte immer «schöne Stei, Bärni», wenn mir ein guter Stein gelang. Ging er daneben, hiess es «Bernhard, lueg uf e Bäse»!
Und wie ging Ihre Schulzeit in Zuoz zu Ende?
Ich machte in Zuoz endlich den Knopf auf, schloss erfolgreich mit einem Handelsdiplom und einer Handelsmatura ab.
Und dann begann Ihre militärische Karriere?
Ja, Charles von Graffenried war ein guter Freund unserer Familie und für mich auch eine Art zweiter Vater, ein begeisterter «Pänzeler». So war es logisch, dass ich meine Rekrutenschule in Thun als Panzerrichter bei den Centurion absolvierte. Nach Unteroffiziers- und Offiziersschule, wo ich auch Panzer fahren lernte, wurde ich Hauptmann in der Felddivision 3 im selbstständigen Panzerbataillon 21. Eine Diskushernie mit nachfolgender Operation bedeutete das abrupte Ende meiner Karriere in der Armee.
Das heisst, dass Sie dann ins Berufsleben einstiegen?
Am 1. November 1977 trat ich in die von Graffenried Immobilien ein, nachdem ich mir vorher drei Jahre lang auf Anraten von Charles von Graffenried in einer Immobilien-Firma in Bern Wissen angeeignet hatte nach dem Motto «learning by doing». Ich beschäftige mich nach wie vor mit der Betreuung des «family office».
Ihr Vater war ein bekannter Rennfahrer, gewann unter anderem den nationalen Grand-Prix von Bern und verschiedene Bergrennen. Weshalb wurden Sie nie Autorennfahrer?
Von meinem Vater habe ich die Leidenschaft für Autos geerbt. Mein erstes Auto war ein Fiat 850 Coupé, welches ich von meiner älteren Schwester übernehmen durfte. Meine Mutter wollte leider nicht, dass ich Rennen fahre. Aber ich erinnere mich gut, wie mich mein Vater an Autorennen mitnahm. Später besuchten wir gemeinsam auch Formel-1-Rennen. Monza, Monte Carlo, Hockenheim waren Destinationen, an die wir immer fuhren, oft mit Marcel Massara, dem Rennleiter des GP von Bern. Auch bis kurz vor seinem Tod verfolgte mein Vater die Formel 1 am Fernsehen aufmerksam. Er interessierte sich vor allem für die Schweizer, Gian-Claudio «Clay» Regazzoni, Jo Siffert und den Rennstall Ferrari.
Wo ist sein Siegerauto des GP von Bern heute?
Das übergab mein Vater wegen Aufgabe des Rennsports seinem Freund Emanuel Toulo de Graffenried. Dieser verkaufte später den Wagen in die USA, wo er nach einem Unfall verbrannte.
Was fuhr Ihr Vater privat für Fahrzeuge?
Er liebte es auch privat schnell, das ging damals noch… Er fuhr meist einen Alfa-Romeo, besass aber auch einen Maserati und zwei Ferrari, einer davon befindet sich nach wie vor im Familienbesitz. Rennen fuhr er oft auch unter dem Pseudonym Habakuk.
Und auf welche Marken setzen Sie?
Früher fuhr ich diverse Sportwagen, heute mag ich es bequem. Für kurze Strecken Fiat 500 und Smart, für weitere Distanzen auch AMGs..
Sprechen wir über Sie. Welches sind Ihre Stärken, welches Ihre Schwächen?
Über meine Stärken müssten eher andere sprechen. Was ich sagen kann: ich bin immer pünktlich, das hat man mir bei der Erziehung so eingeimpft. Ich mag es nicht, wenn ich warten muss. Auf mich kann man sich verlassen. Meine grösste Schwäche ist wohl, dass ich nicht nein sagen kann. Mein Umfeld muss stimmen, Unstimmigkeiten beschäftigen mich sehr.
Worauf legen Sie besonderen Wert?
Auf Harmonie. In der Familie und im Freundeskreis.
Die von Tscharner sind im Kanton Bern eine Familie mit viel Einfluss. Weshalb sind Sie nie in die Politik eingestiegen? Leute wie Sie könnten der Berner Politik nur guttun.
Weder mein Grossvater noch mein Vater waren politische Leute. Ihnen war Diskretion wichtig. Auch mich reizte es nie, eine politische Laufbahn einzuschlagen. Allen Leuten Recht getan, ist bekanntlich eine Kunst, die niemand kann.
Was ist Ihre Meinung zur Entwicklung der Stadt Bern?
Die Reitschule, die Vermummung, die Sprayereien, das ist mir zuwider. Ich mache mir Sorgen um die nächste und übernächste Generation.
Aber es gibt auch viele Sachen, die Ihnen an Bern gefallen und Freude bereiten?
Durchaus. Die Altstadt, die Lauben, die ganze Aarehalbinsel. Bern ist eine gemütliche Stadt. Und ich freue mich an den Leistungen von YB und dem SCB, auch das Formel-E-Rennen war ein grossartiger Anlass, obwohl sich einige Leute leider im Vorfeld daneben benommen haben. Spass habe ich auch am «Revival Bremgarten», das im Drei-Jahres-Rhythmus stattfindet und an den GP von Bern erinnert.
Über Ihre Grosstante Louise Elisabeth de Meuron – von Tscharner wurden Bücher geschrieben und zahlreiche Artikel verfasst. Sie war stadtbekannt und mehr als ein Original, ihre Sprüche sind noch heute vielen Bernern bekannt. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Ihrer Grosstante?
Da gibt es einiges zu erzählen. Tradition war, dass wir am Ostermontag mit der ganzen Familie auf Schloss Rümligen zum Mittagessen eingeladen waren. Von uns Jungen wollte sie genau wissen, was wir tun. Der älteste Anwesende, das war zuerst mein Onkel und danach mein Vater, musste am Tisch die mit Blumen verzierte Hamme schneiden. Es gab immer, jedes Jahr, das gleiche Menu. Kümmelkuchen, dann Kartoffelsalat mit Hamme und zum Dessert Orangensalat. In Erinnerung geblieben sind mir die bösen Windhunde, zwei Barsois, einmal hat einer auch meine Wade erwischt. Es war wirklich «every year the same procedure». An Weihnachten war sie immer bei uns in der Villa Morillon zu Gast. Für die Kinder gab es ohne Ausnahme stets das gleiche Geschenk. In einem Loeb-Sack befand sich zuunterst, gut versteckt von Tannenzweigen, für mich ein Pestalozzi-Kalender. Sie liebte das Militär, hohe Offiziere, organisierte auf Schloss Rümligen Concours-hippiques. Ihr gefielen Uniformen, die Bereitermusik und Stadtpräsidenten, mit diesen Leuten unterhielt sie sich oft und gerne.
Was erwarten Sie von der Zukunft?
Ich hoffe, bei guter Gesundheit mit der Familie und Freunden das Leben geniessen zu können. Gesundheit ist das wichtigste Gut und nicht selbstverständlich, denn man weiss nicht, was man hat, wenn man nichts hat. Und nicht zu vergessen: Friede auf der Welt.