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«Gemeinsam Rösti essen anstatt Gräben vertiefen»

Am 10. September werden in Bern die Swiss Diversity Awards vergeben. Initiant Michel Rudin über Verständnisgräben, das künftige Diversity-Label für Firmen und inwiefern Chancengleichheit auch «alte weisse Männer» inkludiert.

Michel Rudin, das Interview findet hier im neuen Restaurant Röstigraben am Bärenplatz statt. Welche Gräben existieren in der Gesellschaft?
In erster Linie sind es Verständnisgräben: Man versteht sich bisweilen nicht und kennt die Beweggründe der anderen Menschen zu wenig. Hier scheinen mir Neugierde und Offenheit wichtig, sich überhaupt damit auseinanderzusetzen, wie andere leben und was sie umtreibt. Der Röstigraben bezeichnet eine Differenz zwischen Deutsch- und Westschweiz hinsichtlich Sprache und Mentalität. Entscheidend ist, ob man das als «Graben» betrachtet oder vielmehr als Bereicherung. Geht man aufeinander zu, schliesst man nicht nur Gräben, sondern entwickelt Sachkompetenz.

Wie beurteilen Sie die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren?
Wir haben im Bereich Diversität und Inklusion im Vergleich zu vor zwanzig Jahren wesentliche Fortschritte gemacht. Und es hat eine Sensibilisierung stattgefunden. Doch wir sind längst nicht dort, wo wir hinwollen: In Bereichen wie Handicap oder Religion gibt es noch Nachholbedarf. Manchmal wirkt die Debatte etwas angestrengt – meine Vision lautet, Menschen mit einer gewissen freudigen Leichtigkeit zusammenzubringen, so dass sie die Erfahrung als bereichernd empfinden und Verständnis entwickeln. Zum Beispiel an Events wie der Award-Night!

Wie definieren Sie Diversity und Inklusion?
Es bedeutet für mich, dass jeder Mensch auf seine Art wertvoll ist. Ich verstehe nicht, warum manche das Gefühl haben, sie seien nicht Teil dieses gesellschaftlichen Ganzen. Spricht man beispielsweise von «älteren weissen Männern», dann haben diese genauso Verständnis für ihre Bedürfnisse verdient wie ich als «LGBTQI+»-Person. Ich finde es schade, dass der öffentliche Diskurs oft segregierend geführt wird, denn: Das Ziel ist nicht, weitere Röstigräben auszuheben, sondern gemeinsam Rösti zu essen.

Manche befürchten, ihre Mitmenschen würden ihnen «etwas wegnehmen»: Inwiefern ist diese Angst nachvollziehbar?
Oft wird in der Debatte argumentiert, man müsse sich seinen Privilegien bewusst sein. Das stimmt insofern, als dass es dem sachlichen Verständnis dient, ist aber nicht der Schlüssel zu einem guten Miteinander. Es geht nicht darum, eine einzelne Gruppe zu fördern und andere aussen vor zu lassen, sondern das Potenzial und die Denkweisen aller einzubringen: Von der Generation Z mit ihrer Dynamik bis zu Menschen im Rentenalter mit ihrer Fachkompetenz – alle profitieren voneinander und das sollte man benennen.

«Ehe für alle» angenommen, Antidiskriminierungsgesetz eingeführt, Regenbogenflaggen flattern überall und Werbung setzt vermehrt auf «Diversität» – man könnte meinen, es sei doch alles bestens?
Ich kenne keine Frau, die noch nie verbaler oder tätlicher Belästigung ausgesetzt war; keinen homosexuellen Mann, der noch nie beleidigt oder physisch angegriffen wurde; und keine schwarze Person, die noch nie Diskriminierung erlebt hat – um nur drei Beispiele zu nennen. Allein dieser Umstand ist unserer Gesellschaft abträglich.

Wie beurteilen Sie, dass Firmen zunehmend mit Diversität Marketing betreiben – ist dies das neue Greenwashing, sprich: «Diversity Washing»?

Grundsätzlich begrüsse ich jede Auseinandersetzung mit der Thematik. Für mich ist die Separation von Gesellschaft, Wirtschaft und NGOs nicht zielführend: Wir sind eine Ansammlung von Menschen, die mehrere Hüte gleichzeitig tragen. Wirksam ist, sich zu seinen Werten zu bekennen, eine Standortbestimmung zu machen und Taten folgen zu lassen. Berücksichtigt man diese drei Faktoren, entsteht ein konsistentes Bild. Es ist legitim, Absichten zu kommunizieren und dann inhaltlich nachzudoppeln. In naher Zukunft bieten wir eine «Diversity & Inclusion»-Zertifizierung für Unternehmen an.

Inwiefern trägt der Diversity Award zum Umdenken bei?
Das Engagement geht mittlerweile über die reine Preisverleihung, welche die Diversität in ihrer Schönheit zelebriert, hinaus: Wir verstehen uns als lebendige Plattform des Austausches, die Menschen als Thinktank verbindet, um Themen aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Weiter veranstalten wir ein Wirtschaftsforum mit dem Fokus, Vielfalt in Unternehmen voranzutreiben. Auch steht die Gründung eines diversen «Leaders Club» bevor. Erstmals publizieren wir überdies eine Studie in Zusammenarbeit mit der «ZHAW», die aufzeigt, wie wettbewerbsfähig die Schweiz bezüglich Diversität ist. Und jüngst startete auf Blue Zoom unsere TV-Sendung «Diversity Talk», die unverfälschte Einblicke in die Geschichten von Menschen gibt, die sich für Inklusion und gesellschaftlichen Wandel einsetzen.

Wann ist das Ziel in Sachen Diversität in der Gesellschaft erreicht?
Das ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist, ähnlich wie bei der Demokratie. Erkenntnis soll sich durchsetzen, und das geschieht durch stetigen Diskurs, nicht durch Meinung. Oft lautet der Tenor, man müsse als Gesellschaft hart sein; vielmehr sollten wir doch clever sein und Sorge zueinander tragen – alles andere ist destruktiv.

Was kann man im Alltag tun für ein verständnisvolles und wertschätzendes Miteinander?
Miteinander ins Gespräch kommen, Menschen ansprechen – sei es im Sportverein oder beim Einkaufen – und einfach mal fragen: Wie lebst du? Wie sieht dein Alltag aus? Was beschäftigt dich? Es mag banal klingen, doch die Summe der Alltagsentscheidungen ergibt ein Leben, das entweder anderen gleichgültig gegenübersteht oder aber sich um andere bemüht.

Apropos «einander ansprechen»: Gendersensible Sprache wird heiss diskutiert. Inwiefern macht diese einen Unterschied?
Erst das Bewusstsein und die Kompetenz ergeben einen Schlüssel zu einer Sprache, die sich für das Umfeld positiv und motivierend anfühlt. Ich erachte sie als wichtig, aber nicht entscheidend. Die Angst, etwas falsch zu machen, halte ich für verheerender, als es überhaupt nicht zu versuchen. Wem im besten Wissen und Gewissen ein Fehler unterläuft, dem ist nichts vorzuwerfen. Wir sollten uns nicht – oft in Stellvertreterdiskussionen – über Begrifflichkeiten aufregen, jedoch über den Umstand, dass Menschen diskriminiert werden, und uns überlegen, mit welchen Mitteln wir die Situation verbessern. Nicht verbissen, sondern mit Neugierde und Freude, dann hat es etwas Sanftes inne, frei von Brechstangen.

Worauf freuen Sie sich am kommenden Samstag?
Unter anderem darauf, meinen Anzug zu tragen, den ich mir neu kaufen musste, weil ich zu viel Rösti gegessen habe … (lacht)

Daniela Dambach

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