Die Impfkampagne in Bern läuft. Mehrere Pharmariesen haben ihre Vakzine bereits auf den Markt geworfen und wollten die Ersten sein. Bei Janssen lässt man sich Zeit. Warum, erklären die Experten im Interview.
Wieso ist gerade der Standort Bümpliz an der Entwicklung eines Impf-stoffes beteiligt?
Claudio Thomasin: Wir haben hier in Bern eine über 120-jährige Tra-dition in der Impfstoffentwicklung. Das Schweizer Serum- und Impfinstitut wurde 1898 in Bern gegründet, der Standort in Bümpliz 1958 errichtet. Wir konnten von unseren Erfahrungen mit einem Ebola-Impfstoff, der am 1. Juli von der europäischen Arzneimittelbehöre EMA die Zulassung erhalten hat, profitieren. Unser Covid-19-Impfstoffkandidat baut auf der gleichen technologischen Plattform wie der Ebola-Impfstoff auf. Im Gegensatz zu diesem produzieren wir in Bern aber nicht die eigentliche Covid-19-Impfstoff-Komponente, sondern stellen daraus die finalen Produktionseinheiten für klinische Versuche plus die Zellkonzentrate her, die wir für die Impfstoffproduktion von Bern aus in die ganze Welt schicken.
Sie sagen, Bern sei das Schweizer Taschenmesser Ihres Unternehmens. Wieso?
Dirk Redlich: Vor rund sechs Jahren haben wir uns entschlossen, den Fokus in der Schweiz auf Forschung und Entwicklung zu legen, statt für den Markt zu produzieren. Wir waren zwischenzeitlich deshalb ein reiner Forschungsstandort, dabei haben wir im Bereich Technologie jedes Jahr im zweistelligen Millionenbereich investiert. Mit Taschenmesser meine ich, in Bern Zugang zu fantastischen Wissenschaftlern und Technikern zu haben. Innovationskraft, Verlässlichkeit, hohe Qualität – diese Komponenten findet man in Bern.
Andere Hersteller sind bei der Entwicklung des Impfstoffs schon weiter. Wie sieht es bei Ihnen in dieser Hinsicht aus?
Redlich: Wir nehmen nirgends eine Abkürzung, die die Wirkung oder die Sicherheit des Wirkstoffes beeinträchtigen würden. Wir alle haben das Ziel, einen sicheren Impfstoff zuentwickeln, der gleichzeitig wirkt. Wir befinden uns aktuell in Phase 3 und haben rund 45000 Probandengeimpft beziehungsweise ein Placebo verabreicht. Wir gehen davon aus, noch im Januar erste Zwischenresultate zu dieser Studie präsentieren zu können. Das hängt indes massgeblich von der Anzahl der auftretenden Infektions-Fälle innerhalb der Studie ab.
Impfkritiker behaupten, den Grossunternehmen gehe es nur ums Geld. Zudem hält man das Vakzin für eine Art Giftstoff, weil schlicht die Langzeitstudien fehlen.
Redlich: Diese Fragen sind berechtigt. Ich möchte dazu Folgendes anmerken: Dank unserer Plattform, die von Claudio Thomasin bereits an-gesprochen wurde, konnten bereits Zehntausende Personen im Rahmen klinischer Studien geimpft werden. Gerade beim Ebolavirus hat sich gezeigt, dass der Impfstoff, der auf dieser Plattform basiert, sehr sicher ist und keine gravierenden Nebenwir-kungen auftreten. Ausserdem laufen die Langzeitstudien immer noch, wir wissen daher über mögliche Folgen Bescheid. Zum Vorwurf der Bereicherung: Johnson & Johnson ist bestrebt, einen erschwinglichen Covid-19-Impfstoff für den Pandemie-Notfall auf einer Non-Profit-Basis zur Verfügung zu stellen.
Sind die anderen Impfstoff-Produzenten für Sie eine Konkurrenz?
Redlich: Überhaupt nicht. Wir freuen uns sogar, dass Unternehmen wie Pfizer oder Moderna ebenfalls einen Impfstoff entwickelt haben, der sehr wirksam ist. Für uns ist das hier kein Wettbewerb, sondern eine gemein-schaftliche Aufgabe im Kampf gegen eine weltweite Bedrohung. Zwar haben Pfizer und Moderna etwa ei-nen anderen Ansatz, das Antigen ist aber praktisch das gleiche. Wenn es bei ihnen nicht geklappt hätte, hätte es bei uns wohl auch nicht funktioniert. Insofern sind wir guten Mutes.
Wieso haben Sie sich nicht für das gleiche Verfahren entschieden?
Redlich: Moderna und Pfizer benut-zen einen RNA-Strang, auf dem sich die genetische Information des Spike- Proteins aus der Coronavirus-Hülle befindet. Darauf wird die Immunantwort des Körpers programmiert. Mit unserer Plattform arbeiten wir hingegen mit einem Adenovirus als Vektor oder, anders ausgedrückt, als Träger des genetischen Codes eines Antigens. Damit können Komponenten eines Virus-Pathogens nachgeahmt werden. Antigene – das sind Bestandteile eines Erregers – werden produziert, um den Erreger zu imitieren, ohne eine schwere Krankheit zu verursachen. Wenn der Körper auf das Antigen stösst, löst er eine langanhaltende humorale und zelluläre Immunantwort gegen das Antigen aus, indem er Antikörper und Immunzellen produziert. Der Mensch wird immun. Diese Technologie wurde wie gesagt bereits bei der Entwicklung des Ebola-Impfstoffs von Janssen eingesetzt und auch bei der Konstruktion von Janssens HIV-, RSV- und Zika-Impfstoffkandidaten verwendet.
Thomasin: Ein Vorteil unseres Impfstoffs ist sicher, dass er nicht so tief runtergekühlt werden muss, was gerade in Ländern mit hohen Temperaturen ein Vorteil sein dürfte.
Was antworten Sie Impfskeptikern, Herr Thomasin?
Hand aufs Herz: Sobald man sich eine Injektion verpassen lassen muss, beginnt die Skepsis. Eine Tablette ist etwas völlig anderes. Bei Medikamenten sind wir willens, Nebenwirkungen zu akzeptieren, weil wir davon ausgehen, dass Medikamente heilen. Impfen lassen wir uns hingegen, wenn wir grundsätzlich gesund sind. Wieso also sollte man sich das antun? Doch blicken wir zurück: Warum werden wir heute so alt und leben wir generell so gesund? Den Hauptgrund stellen Impfungen dar, die Jahr für Jahr Millionen Menschen ihr Leben retten. Man schützt sich selbst und sein Umfeld.
Redlich: Man denke an die Masern: Es sterben noch heute, auch in der westlichen Hemisphäre, Hunderte von Menschen an dieser Krankheit. Jeder einzelne Tod wäre durch Imp-fung vermeidbar. Heute weiss keiner mehr, wie eine Polio-Erkrankung aussieht, da es gute Impfstoffe gegen den Ausbruch der Krankheit gibt. Trotzdem wird weiterhin geimpft, weil der Polio-Erreger noch existiert.
Eine Frage, die häufig gestellt wird: Schützt man mit der Impfung bloss sich allein oder auch andere? Moderna und Pfizer/Biontech liefern hier keine klare Antwort. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Redlich: Was wir wissen, ist, dass, selbst wenn es keinen vollständigen Schutz gibt, eine Infektion deutlich milder abläuft. Ob man das Virus weitergeben kann, wird gegenwärtig untersucht.
Was halten Sie von den Massnahmen, die die Schweiz und weitere Staaten getroffen haben?
Redlich: Ich kann Ihnen diese Frage nur aus meiner ganz persönlichen und nicht aus Firmensicht beantworten: Jedes Todesopfer und jede schwere Erkrankung sind Schicksale, die mir sehr nahe gehen. Ich persönlich habe in der Öffentlichkeit immer eine Maske getragen und ich halte Abstand. Ich weiss ja nicht, ob ich der Träger des Virus bin. Ich habe mir beispielsweise sehr genau überlegt, ob ich in diesen Zeiten meine Mutter besuchen soll. Denn wir leben nicht ewig und man möchte Zeit mit Angehörigen verbringen. Kein Land hat sich die getroffenen Entscheidungen einfach gemacht. Um Todesopfer zu vermeiden, würde ich sehr vieles tun.
Nach welchem Prinzip werden Ihre Impfdosen verteilt?
Redlich: Wir arbeiten mit suprana-tionalen Behörden und Organisationen wie etwa der WHO zusammen. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, den Impfstoff nicht nur bestimmten Menschen zur Verfügung zu stellen, sondern allen. Was ich betonen möchte: Der Impfstoff an sich wird keine Leben retten, sondern nur die Impfung!
Yves Schott