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Heute schätzt er hier das, was er früher so bieder fand

Als jungen Mann zog es Bernhard Lehmann voll Abenteuerlust über den grossen Teich. Nach drei Jahrzehnten in Kanada kehrte er im Herbst zurück. In Bern spürt er Altbekanntes, aber auch Veränderung.
«Nussgipfel und Kalbsbratwurst essen und YB endlich wieder im Stadion spielen sehen.» Bernhard Lehmann lacht, wenn er darüber nachdenkt, worauf er sich bei der Rückkehr nach Bern gefreut hat. Derweil hat sich im Stadtbild rein äusserlich wenig verändert, und doch bemerkt er eine offenere Mentalität und nie dagewesene Diversität in der Bärenstadt. Nach 29 Jahren in der Nähe von Vancouver und sogar der Annahme der kanadischen Staatsbürgerschaft entschloss sich der erfahrene Touristiker letzten Herbst dennoch für die Rückkehr in die Schweiz. Heimweh nach so langer Zeit? «Sicher. Vor allem habe ich meine Familie und gute Freunde von früher vermisst.» Kontakte in die Schweiz hatte Lehmann nie abreissen lassen, seine beiden älteren Schwestern empfingen den Rückkehrer so mit offenen Armen. Seitdem arbeitet Lehmann an seinem Neustart, vor allem beruflich. Duzende Bewerbungen liefen ins Leere. «Diesen Kampf hatte ich auch erwartet», sagt er gefasst. «Mein Alter ist ein Hindernis und im Tourismus ist es im Moment noch schwierig. Aber selbstständig machen möchte ich mich nicht. Diese Woche hatte ich nun Vorstellungsgespräche und bin optimistisch.» Lehmann nutzte die Zeit, um sich weiterzubilden, frischt sein Französisch auf, nimmt Aufträge an, spannt mit anderen Kanada-Begeisterten zusammen.

«Was hält mich noch hier?»
Genug Stoff hat er auf jeden Fall zu erzählen: «Als ich 1987 zum ersten Mal für einen Sprachaufenthalt nach Kanada kam, mochte ich sofort die relaxte, offene Art der Menschen. Vancouver ist eine der schönsten Städte der Welt. Sie hat alles: Berge, Meer, tolle Architektur und einen Mix vieler Kulturen.» Lehmann verliebte sich in das Land und wenig später auch in eine Kanadierin. Nach der Hochzeit wanderte er 1992 endgültig aus. «Ich konnte gar nicht schnell genug wegkommen.» Der kontaktfreudige Berner fand sofort Anschluss und blitzschnell einen Job in einer grossen Wohnmobilvermietung. Doch das Glück hielt nicht an: Lehmanns Ehe zerbrach, seine Wahlheimat veränderte sich negativ und die Coronakrise setzte auch dem Geschäft zu. «Die Menschen in Vancouver sind nicht mehr so freundlich wie früher, die Inflation ist hoch und man muss ständig weite Distanzen in Kauf nehmen.» Immer mehr zeigten sich die Schattenseiten der Millionenmetropole, in der Lehmann in seiner Einzimmerwohnung im Lockdown die Decke auf den Kopf fiel. Zuletzt fragte er sich: «Was hält mich noch hier?» Nun geniesst er, was er früher an Bern klein und engstirnig fand: Die kurzen Wege, der funktionierende ÖV, dass man sich untereinander kennt. Nur eins vermisst er schmunzelnd: «Das ausgiebige Sonntagsfrühstück mit Pancakes und Lachsfilet.» Die kann auch der Nussgipfel nicht ersetzen.

Michèle Graf

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