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«Ich bin froh, dass man ein Kind heute ernst nimmt»

Bildungs- und Kulturdirektorin Christine Häsler outet sich als frühe Leseratte, zählt Mathematik und Buchhaltung nicht zu ihren Stärken in der Schule und windet den Lehrpersonen nach dem Lockdown ein besonderes Kränzchen. Wie ist es allgemein um die Bildung der Berner Schülerinnen und Schüler bestellt und wie präsentiert sich die Situation nach dem Homeschooling der letzten Monate?
Im Grundsatz sind wir im Kanton Bern im Vergleich zu anderen Kantonen sehr gut unterwegs. In der Schweiz haben durchschnittlich 91 Prozent der jungen Menschen erfolgreich einen Abschluss auf Sekundarstufe II absolviert, verfügen also über eine Matura oder Berufslehre. Im Kanton Bern können wir einen Wert von 95 Prozent verzeichnen, das freut uns natürlich. Die letzten Wochen waren herausfordernd, Schulleitungen und Lehrpersonen leisteten eine Mammutarbeit, aber auch die Familien und Kinder. Es ist noch verfrüht, ein abschliessendes Fazit zu ziehen. Die Voraussetzungen waren halt unterschiedlich. Es gab Kinder, die es genossen, nach ihrem Tempo arbeiten zu können. Es gab aber beispielsweise auch Eltern, die den Zeitaufwand zur Hilfe nicht aufbringen konnten. Die Corona-Krise zeigt, dass die Digitalisierung hilft, ergänzt, aber den Präsenzunterricht nicht ersetzt.

Die Digitalisierung hat durch den Heimunterricht einen enormen Aufschwung erlebt, aber der Mensch lernt letztlich durch den Menschen. Wie ist Ihre Beurteilung?
Ich bin froh darüber, dass wir uns dieses Themas nun intensiv angenommen haben, dass sich die Lehrpersonen im Bereich neue Medien schon vorher permanent weiterbilden konnten und die Schulen mit Hilfe der Gemeinden die entsprechende Ausrüstung erhielten. Wir stellen fest, dass die Schülerinnen und Schüler, je älter sie sind, besser und selbstständiger mit diesen Medien umgehen können. Bei den Kleineren ist Präsenzunterricht aber noch sehr wegweisend. Die Lehrkraft kann nur im direkten Kontakt spüren, wo ein Kind Unterstützung benötigt, das kann sie im Fernunterricht nur beschränkt.

Man hört immer wieder, im Kanton Bern bestehe Nachholbedarf in mathematischen Fächern. Warum gerade Mathematik?
Bei der Überprüfung der Grundkompetenzen haben wir dieses Manko erwartet. Die im Kanton Bern getesteten Schülerinnen und Schüler hatten weniger Mathematikunterricht als die Testschüler in anderen Kantonen. Mit der Harmonisierung der Unterrichtsinhalte nach Lehrplan 21 wird dieses Defizit aber ausgeglichen und die Lektionenzahl erhöht. Wir sind froh, dass wir uns an die anderen Kantone angleichen konnten. Das Thema begleitet uns aber immer wieder. Oft hören wir von Lehrbetrieben, dass die Lernenden weniger gut rechnen könnten. So hat nun die Volksschule zusammen mit dem Mittelschul- und Berufsbildungsamt das sogenannte Kompetenzraster erarbeitet. Damit kann zum Beispiel eine Acht- oder Neuntklässlerin ihren Wunschberuf eingeben, dann erhält sie mit diesem Raster gezielte Fragen, um zu messen, wo sie mit ihren mathematischen oder sprachlichen Fähigkeiten steht. Dort, wo dann noch Defizite bestehen, kann die Schülerin im Fach Allgemeine Vertiefung und Erweiterung ihre Kompetenzen stärken. Ich hoffe in ein paar Jahren auf einen guten Effekt!

Ist die Ausbildung an Berner Schulen heute besser als noch vor 40 Jahren?
Sie ist bestimmt anders. Man hat zweifelsohne auch damals nach bestem Wissen und Gewissen unterrichtet. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorstellungen waren anders. Ich bin froh, dass man heute ein Kind vermehrt anhört und ernst nimmt. Wir vermitteln heute nicht nur Wissen, sondern primär Können. Früher musste viel Stoff einfach auswendig gelernt werden.

In der Stadt geht man an die Universität, auf dem Land macht man eine Berufslehre: Stimmt dieses Klischee noch?
Ich habe nicht so gern Verallgemeinerungen. Gewiss, im urbanen Gebiet leben mehr Akademikerinnen und Akademiker und die geographische Nähe zu einem Gymnasium oder zu einer Hochschule spielt wohl auch eine gewisse Rolle. In ländlichen Regionen ist die Verbundenheit mit dem Gewerbe wahrscheinlich höher. Viel wichtiger ist doch die gute Durchmischung und dass wir talentierten Kindern unabhängig von ihrer geographischen und demographischen Herkunft den gleichen Zugang zu den Ausbildungsinstitutionen ermöglichen. Ganz wichtig scheint mir, dass die Kinder das lernen können, was zu ihnen passt.

Gymnasiale Ausbildung versus Berufsausbildung: Ziehen heute immer noch mehr Jugendliche den gymnasialen Weg der Berufslehre vor? Um der praktischen Berufsausbildung mehr Gewicht zu verleihen, wurden in den 1990er Jahren die Berufsmatura und die Fachhochschulen geschaffen. Es besteht in vielen Branchen Fachkräftemangel.
Ich habe auch eine Berufslehre absolviert und neben meinen Familienpflichten immer gearbeitet, was es mir erlaubte, stets auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben. Heute haben wir es geschafft, dass uns mit der Durchlässigkeit viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Es freut mich, dass die Berufsmatura an Beliebtheit gewonnen hat, die vielen Praktikerinnen und Praktikern weitere Türen öffnet. Allerdings bin ich besorgt, dass es schwieriger geworden ist, junge Menschen für bestimmte gewerbliche Berufe zu begeistern. Ich denke an die kreativen Berufe des Bäckers, Schreiners oder Spenglers, um nur drei Beispiele zu nennen. Ich hoffe aber, dass es uns zusammen mit den Berufsinformationszentren, aber auch durch einen motivierenden Unterricht gelingt, bei den Jugendlichen die Freude am Lernen zu wecken: Was euch Freude macht, das macht ihr gut!

Sie haben eine kaufmännische Grundbildung. Sind Sie zufrieden damit oder hätten Sie lieber einen Hochschulabschluss gehabt?
Die kaufmännische Lehre hat mir vieles eröffnet, ich konnte schon als sehr junge Frau in einer 250-Seelen-Gemeinde eine Gemeindeschreiberei leiten. Zwischendurch kam aber tatsächlich hie und da der Wunsch nach einem Studium auf, auch im damaligen Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. Aber nein, heute ist es gut, wie es ist!

Waren Sie eine gute Schülerin?
Ich habe schon im Vorschulalter lesen gelernt und war eine richtige Leseratte. Ich bin im Berggebiet aufgewachsen und manchmal hätte man mich lieber beim Heuen gesehen als zurückgezogen mit einem Buch im Haus! Sprachen sind mir leichtgefallen, etwas schwerer tat ich mich mit Mathematik, Buchhaltung und Rechtskunde, was sich später etwas relativiert hat. Ich war weder eine schlechte noch herausragende Schülerin.

Peter Widmer

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