Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross, vermisst in Bern spezifische Angebote für queere Menschen. Und doch attestiert er der Stadt ihre Vorreiterrolle bei der Gleichstellung von LGBTQPersonen.

Es fällt auf, dass Sie in der Geschäftsstelle und im Vorstand von Pink Cross keine Frauen beschäftigen. Zufall oder Absicht?
Das ergibt sich fast zwangsläufig aus dem Zweck von Pink Cross, der sich hauptsächlich für schwule und bisexuelle Männer einsetzt. Aber wir arbeiten eng mit der Lesbenorganisation Schweiz und dem Transgender Network Switzerland zusammen. Beide Geschäftsstellen befinden sich ebenfalls hier an der Monbijoustrasse 73. Wir beschäftigten in unserer Geschäftsstelle auch Frauen, aber gerade als Geschäftsleiter ist es sicher kein Nachteil, wenn man selber schwul ist.

Ist die Situation für schwule und bisexuelle Männer in den letzten 20 Jahren besser geworden?
Die Situation hat sich zweifellos verbessert. Das Schwulsein ist allseits zum Thema geworden. Wir sind heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die klare Zustimmung von 64 Prozent zur «Ehe für alle» untermauert diese Feststellung.

Stellen Sie in den Städten ein grösseres Verständnis fest als in ländlichen Gebieten?
Nein, ich nehme das nicht so klar wahr. Ich stelle fest, dass die meisten Schwulen und Lesben auch auf dem Land akzeptiert sind, sobald sie sich geoutet haben. Man ist zusammen in der Feuerwehr, im Turnverein, im Chor und hat gemeinsame Erlebnisse, was enorm hilft, Vorurteile abzubauen. Verbale und physische Angriffe, sogenannte Hate Crimes, gegen LGBTQ-Menschen ereignen sich vor allem in den Grossstädten.

Wie steht Bern mit entsprechenden Angeboten da im Vergleich zu anderen Städten?
(Schmunzelt) Ich bin überrascht, dass in einer so grossen Stadt wie Bern nicht mehr läuft für queere Leute! Ich habe irgendwie das Gefühl, dass man aneinander vorbeilebt, es gibt keine grosse Community. Es gab schon lange keine Gay-Pride mehr, erst nächstes Jahr ist wieder eine in Planung. Doch gleichzeitig gibt es Organisationen wie die hab queer bern, die sich seit 1972 für LGBTQ-Menschen und ihre Anliegen einsetzt. Eine Community gibt es zwar in meiner Heimatstadt Luzern auch nicht, aber dort sind wir näher bei Zürich. Zürich ist ganz klar der Hotspot.

Bern gibt sich tolerant und weltoffen. Entspricht das Ihrer Wahrnehmung?
Ich denke schon, dass man als queere Person in der Stadt Bern sehr gut leben kann, ohne Diskriminierung. Bern war in der deutschen Schweiz die erste Stadt, die Gleichstellung von LGBTQ-Personen in ihren Aktionsplan aufgenommen hat. Bern hat hier eine Vorreiterrolle übernommen. Die Stadt ist zudem im Herbst 2019 als dritte Schweizer Stadt neben Genf und Zürich dem internationalen Netzwerk Rainbow Cities Network beigetreten. Eine «Regenbogenstadt» verpflichtet sich, eine aktive LGBTQ-Politik zu betreiben.

Mit welchen Problemen kämpfen schwule Männer am meisten?
Heute haben noch viele schwule Männer Hemmungen, sich im Job zu outen, selbst wenn sie sich schon lange in der Community bewegen und mit einem Partner zusammenleben. Sie sind unsicher, wie das Team, die Vorgesetzten reagieren werden und möchten daher nichts riskieren. Das ist eigentlich schockierend. Wenn andere über ihre Freizeit, ihre Ferien erzählen, weichen queere Menschen aus und müssen aufpassen, dass sie sich nicht verplappern. Dieses Versteckspiel ist psychisch extrem belastend. Man weiss heute, dass die Produktivität nach einem Coming-out am Arbeitsplatz deutlich zunimmt. Die Unternehmen müssten also auch ein wirtschaftliches Interesse haben, ein möglichst offenes Umfeld zu bieten.

Wurden Sie persönlich schon in der Öffentlichkeit angefeindet?
Ja, zum Beispiel in Zürich. Ich war mit einem Freund nach einer Party Hand in Hand unterwegs. Dann kamen drei Jungs auf uns zu, pöbelten uns an und drohten uns zusammenzuschlagen. Wir konnten uns in einen Hauseingang retten, aber der Abend war ruiniert. Das ist das Frustrierende: Ohne zu provozieren, wird man einfach angegriffen.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
In den Schulen müsste mehr über LGBTQ-Themen vermittelt werden. Das steht und fällt heute mit der Lehrperson. Viele setzen diesen Teil im Lehrplan nicht um. Die Lehrkräfte lernen in ihrer Ausbildung kaum, wie das Thema geeignet in den Klassen vermittelt werden kann.

Am Dienstag ist wiederum internationaler Tag gegen Homophobie. Was erhoffen Sie sich davon?
Es ist eine Gelegenheit, die Öffentlichkeit fürs Thema zu sensibilisieren, dass noch nicht alles zum Besten bestellt ist. Dass wir leider immer noch von Diskriminierung und Angriffen betroffen sind.

Heute erscheint auch der jährliche Hate-Crime-Bericht. Können Sie uns schon etwas zum Inhalt verraten?
Der Bericht dokumentiert Hass und Hetze gegen die LGBTQ-Community. Im 2021 wurden uns 92 LGBTQ-feindliche Angriffe gemeldet, das sind 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Nur ein kleiner Teil der Leute, die Anfeindungen erleben, meldet sich bei uns. Die Anfeindungen nahmen in den letzten Jahren tendenziell zu.

Peter Widmer