Chris 19

«Ich komme vom Land, der Exot war eher der Studierte»

Egal ob Lehre oder Universität: Die Lebensläufe von Manuela Angst und René Schmied beweisen, dass in der Schweiz viele Wege zum Erfolg führen.

Frau Angst, was ist das Beste daran, keinen Uni-Abschluss zu besitzen?
Dass man gelernt hat zu arbeiten. (lacht) Ernsthaft: Ich kam sehr früh mit der Berufswelt in Kontakt. Klar arbeiten auch Studierende nebenbei, doch ich musste als 16-Jährige plötzlich samstags und sonntags früh aufstehen. Das erforderte unter anderem ein neues Beziehungsumfeld. Das Beste daran ist jedoch tatsächlich, dass man sofort weiss, wie die wirkliche Arbeitswelt funktioniert.

Das wird «Studierten» wie Ihnen, Herr Schmied, gerne vorgeworfen: Theoretiker, die von der Praxis keine Ahnung haben.
Ich will das gar nicht schönreden. (lacht) Als ich nach der Uni meinen ersten Job angetreten hatte, musste ich zunächst lernen zu arbeiten. All die Dinge, die jemand mit einem KV von der Pike auf lernt, haben mir gefehlt. Klar habe ich neben der Uni mit dem Putzen von Schulhäusern etwas dazuverdient, als ich dann aber tatsächlich bei einem Betrieb einstieg, fing ich bei Null an. Mit einem grossen theoretischen Rucksack musste ich mit etwa 25 die einfachsten Dinge lernen. Da hatten Praktikerinnen und Praktiker schon einen immensen Vorteil.

Hat Sie das sehr gestört?
Schmied: Kurz nach der Uni, in meinem Job, fiel mir das zunächst gar nicht so auf. Erst rund zwei Jahre später realisierte ich, was ich in der Zeit alles erlernt hatte. Das stelle ich heute noch fest: Leute direkt ab der Uni lassen sich schnell für Konzeptionelles einsetzen, für das Praktische im täglichen Geschäft fehlen allerdings, ohne das böse zu meinen, manchmal elementare Dinge.

Für Sie war hingegen immer klar, dass es nach dem Gymer an die Uni geht?
Schmied: Es war kein geplanter Weg, er hat sich so ergeben. Ich habe nicht einmal bewusst Betriebswirtschaft studiert, darunter konnte ich mir zunächst nur wenig Konkretes vorstellen.

Wieso kam bei Ihnen andererseits die Uni nie infrage?
Angst: Weil ich eine etwas gar bequeme Schülerin war. (lacht) Ich konnte sehr gut reale Arbeiten ausführen, was für die Sek aber nicht reichte. Dafür machte ich mich als Realschülerin ausgezeichnet. Somit hatte ich viel Zeit, um draussen Sport zu treiben und dachte zunächst folglich an eine Lehre als Sportartikelverkäuferin. Da unsere Real-Klasse im eigentlichen Sinne auch weiter war als jene der Sek, dachte ich, dass das für mich tiptop passt. Meine Eltern haben mir zudem bei der Berufswahl kaum etwas vorgeschrieben.

Stellte sich die Tatsache, keinen Uni-Abschluss in der Tasche zu haben, jemals als Nachteil heraus?
Angst: Diese Frage stellte sich gar nie. Ich absolvierte eine Lehre, danach riet mir meine damalige Chefin des Baur au Lac in Zürich, dass ich doch eine Hotelfachschule besuchen solle, ich würde die nötigen Fähigkeiten mitbringen. Dort waren Praktiker, keine Uni-Abschlüsse gefragt. An der Hotelfachschule selbst merkte ich schon: Hoppla, das ist aber viel Lernstoff. Wenn du jetzt eine Uni hinter dir hättest, wäre das easy. Das hat mir schon etwas gefehlt. Doch alles ist irgendwie lernbar.

Ihnen, Herr Schmied, war eine Lehre nie einen Gedanken wert?
Doch, schon. Meine Eltern stammten aus einer Zeit, in welcher ein Beruf erlernt und schliesslich für ein ganzes Leben lang ausgeübt wurde.

Ihre Eltern hatten studiert?
Nein. Mein Vater war Lokführer, meine Mutter machte eine Verkaufslehre, gab diesen Job dann jedoch grösstenteils auf, als meine Geschwister und ich zur Welt kamen. Meine Eltern waren aber der Meinung, dass wir Gymnasium und Uni besuchen sollten. Als ich viel später bei der Mobiliar engagiert war, merkte ich plötzlich, dass die Praktiker dort ja viel mehr können als ich. Ich erinnere mich gut, mit meinem Chef darüber diskutiert zu haben, wie ich in die gleiche Tiefe der Materie kommen könne wie die anderen. Er meinte, dass es Generalisten und Spezialisten brauche. Ja, mir fehlte die Praxis – und ich bin bis heute der Generalist.

Zu wenig Praxis, zu wenig Theorie: Was wäre folglich der goldene Mittelweg?
Angst:
Mein Göttibub möchte aktuell gerne in den Verkauf. Er verbaut sich ja nichts, wenn er daneben noch die Berufsmatur macht. Hätte ich Kinder, würde ich ihnen genau das empfehlen. Damit steht einem alles offen, gerade, weil man sich heutzutage schon in jungen Jahren für einen bestimmten Weg entscheiden muss. Schmied: Ich sehe es genau gleich wie Frau Angst – ausser jemand weiss schon in sehr jungen Jahren, dass er oder sie Astrophysiker/in werden will. Unser Sohn macht derzeit das KV, strebt dann die Berufsmatur an, also genau das, was Sie sagen. Dieses Gemisch aus Erfahrungen und Theorie ist eine gute Basis.

Hatten Sie nie das Gefühl, dass den Studierten eher mal der rote Teppich ausgerollt wurde als Ihnen?
Angst:
Nicht wirklich. Meine Eltern und Geschwister hatten ebenfalls eine Lehre absolviert. Ich komme vom Land, der Exot war eher der Studierte. Im Baur au Lac waren die meisten von uns ebenfalls Praktiker. Dass ich einen Nachteil gehabt haben soll? Nein. Ich konnte an einem Freitagnachmittag, wenn alle anderen gearbeitet haben, dafür Skifahren gehen.

Würden Sie alles nochmals genau gleich machen?
Angst: (Lacht) Ich würde mich in meinen jungen Jahren wahrscheinlich etwas mehr anstrengen, um es in die Sek zu schaffen. Danach würde ich wieder eine Lehre machen und die Berufsmittelschule wählen. Schmied: Eine schwierige Frage. Hätten Sie mich zwei Jahre nach dem Uni-Abschluss gefragt, hätte ich mich wohl für die Lehre entschieden. Jetzt, mit 30 Jahren Abstand, sage ich, es ist beides möglich. Obwohl es eine Weile gedauert hat, bis ich im echten Berufsleben ankam. Es gibt kein Besser und Schlechter, nur x Möglichkeiten, irgendwo und irgendwie einzusteigen. Zum Glück.

Nach all dem beruflichen Fachsimpeln: Was ist die beste Entscheidung, die Sie privat je getroffen haben?
Schmied:
Eine Familie mit zwei Kindern zu haben. Die Tochter ist 17, der Sohn 19.
Angst:
Von Zürich nach Bern zu kommen. Ich ging mit 21 nach Thun, mittlerweile ist die Stadt Bern meine Heimat. Ich kann bloss den Dialekt noch nicht. (lacht)

Yves Schott

 

Weitere Beiträge

Weitere Beiträge