Auf guten Grund gepflanzt: Das Integrationsprojekt «Neue Gärten Bern» bringt Freiwillige und Migrant:innen zusammen. Neben Setzlingen wachsen hier auch Sprachkenntnisse und Freundschaften.
Gurken, Zwiebeln, Kopfsalat, Zucchetti und Himbeersträucher: Gerade einmal 15 Quadratmeter misst das Beet von Jaroslav Bilenko. Es ist in den letzten Wochen sein kleines Versuchslabor geworden. Gerade bewässert der Ukrainer die trockene Erde: «Meine Frau und ich kommen im Wechsel jeden Tag hierher. Wenn man so gut wie alles verloren hat, lernt man das Wenige, was man hat, zu lieben.» Er lächelt und lässt seinen Blick kurz über die Wiesen schweifen. Das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche HEKS hat hier im Familiengartenareal Kleine Allmend ein Stück Land gemietet. Während der Saison von Ende März bis November findet das Integrationsprojekt «Neue Gärten Bern» statt. Der Standort im Quartier Burgfeld ist neu, weitere Gärten befinden sich im Fischermätteli, in Biel und Burgdorf. Bilenko und seine Familie haben dieses Frühjahr einen der 16 Plätze im Burgfeld bekommen. «Eigentlich arbeite ich lieber mit Computern.» Er wirft eine Handvoll Erde auf das Feld. «Aber heute habe ich verstanden, dass der Anbau von Essen überlebenswichtig ist.» In der Ukraine besitzt sein Vater eine landwirtschaftliche Firma, Bilenko ist Agronom. Jetzt steht er auf dieser kleinen Parzelle und schüttelt über seine kriegsbedingte Lebenswende den Kopf. Die Odyssee der Familie führte über Griechenland, Polen, Rumänien, Tschechien und Deutschland schliesslich in die Schweiz. «Wir wollen eine Weile hierbleiben. Die Schweiz ist sicher.»
Der soziale Aspekt
Wieder einen Boden unter den Füssen bekommen und Wurzeln schlagen: Das ist in Metaphern gesprochen genau das Ziel des hauptsächlich durch Spenden finanzierten HEKS-Projekts. Lächelnd steht Gartenleiterin Franziska Windler bei den Parzellen, beantwortet Fragen und packt mit an. Die Lehrerin weiss, dass hier nicht nur Blumen aufblühen, sondern auch Menschen. Jeden Mittwochnachmittag finden alle Teilnehmenden zusammen. Neben der individuellen Gartenarbeit wird dann auch der Gemeinschaftsbereich mit Tomatenhaus und Pergola mit Aufenthaltsecke weitergebaut. Zwei Teilnehmende bringen für alle ein Zvieri mit, dazu kommt ein Infoteil mit Gartenwissen. Heute erklärt Windler, wie Kompostieren funktioniert. Vier Freiwillige bilden ihr Team.
«Der soziale Aspekt ist neben dem Gärtnern das Wichtigste», so Windler. So werden auch Behördenbriefe gemeinsam gelesen, Fragen zum Leben in der Schweiz geklärt. Das Smartphone als Minitranslator ist zwischen Rüebli und Acker viel im Einsatz. Die Teilnehmenden kommen aus Eritrea, der Türkei, Zentralamerika oder Afghanistan. «Gartenarbeit hat etwas Erdendes. Die Menschen hier mussten ihre Heimat verlassen und das Projekt hilft ihnen, an diesem neuen Ort anzukommen», ergänzt Windler. Es richtet sich an Migrant:innen ungeachtet des Asylstatus.
Noch liegt vieles im Garten brach, alle schippen Erde, Samentütchen mit Radieschen und Kräutern liegen am Beetrand. Die Aussaat müssen die Teilnehmenden selbst besorgen. Hier hilft das Pflanzenbrocki, oft kann man Samen auch tauschen, Facebookgruppen verschenken Saatgut. Um solche kleinen Hilfen wissen die Freiwilligen wie Carmen Zürcher Bescheid. Sie ist seit einigen Wochen bei den Neuen Gärten engagiert und findet die Kombination aus Garten- und Integrationsarbeit eine super Idee. Statt in einem Beratungsraum oder einem Sprachkurs ist man hier in der Natur, erschafft etwas. Wer gemeinsam hackt, gräbt und einsät, überspringt kulturelle und sprachliche Barrieren schnell. «Ich habe ein wenig Wissen, das ich so weitergebe», sagt sie. «Ich will meinen Teil zur Integrationshilfe leisten. Ich finde, als Schweizer ist das unsere Aufgabe.» Zürcher, die hauptberuflich Angebote für Frauen mit einer Migrationsbiografie leitet, findet, dass das Projekt auch zeige, dass es mehr als das Feld Schweiz gäbe. «Wir Freiwilligen ernten zwar kein Gemüse, aber Begegnungen und das sind tolle Geschenke.»
Das soziale Netz
In einem anderen Teil des Nutzgartens schleppt Nour Alshahal gerade eine volle Giesskanne herbei. Die Syrerin strahlt, sie hofft, dass sie ihre Gurken bald ernten kann. «In meiner Heimat hatte ich einen grossen Garten», lacht sie. «Dieser hier ist klein, aber ein Ort für mich. Ich kann kreativ sein. Das ist toll.» Bisher spricht die studierte Frau, die lange im Libanon lebte, nur Englisch, verbessert hier ihr Deutsch. «Wenn ich hierher gehe, treffe ich andere Menschen, schliesse Freundschaften. Wir alle brauchen menschliche Beziehungen. Wenn ich mit jemandem reden kann, fühle ich mich angekommen und weiss: Ich kann wieder leben.» Seit ihrer Migration hat sie wenige soziale Kontakte, vermisst ihre Familie und Freunde. Genau für Migrant:innen wie sie ist das Projekt ausgeschrieben, denn es will helfen, das soziale Netz der Personen zu vergrössern. Alshahal ist hoffnungsvoll: «Ich möchte studieren und Sozialarbeiterin für Geflüchtete werden, das habe ich auch schon im Libanon gemacht.»
Wie es ist, in der Fremde anzukommen, weiss auch die Freiwillige Erin Dillon. Die Schweizerin mit US-amerikanischen Wurzeln kam vor 20 Jahren in die Schweiz. «Im Alltag ist die Hemmschwelle, jemanden zu fragen, wenn man etwas nicht versteht, gross. Hier im Garten sind wir einfach da und man kann mit allem ohne Stress zu uns kommen.» Heute Nachmittag kümmert sich die Lehrerin vor allem um die Kinder. Während die Eltern jäten, malen die Kids Blumenbilder und spielen Fussball. «Ich bin gerne hier. Die Leute teilen ihre Situation, sind offen. Das ist spannend», sagt sie. «Solche Projekte sind gut für die Schweiz. Sie vermitteln und machen Freude.»
Nebenan zupft Ilhami Yavuz in seinem Beet. Der Kurde war schon im HEKS-Garten in Burgdorf aktiv, jetzt hat er einen Platz näher an seinem Wohnort ergattert. «Ich habe Bohnen, Mais und Erdnüsse gesetzt. Ob sie wohl wachsen? Sie brauchen viel Wärme», hat er im Internet recherchiert. Im Projekt gefällt ihm besonders, dass er neue Kulturen und deren Essen kennenlernt. «Mein Deutsch wird besser. Jetzt kann ich bald einen Job finden.» Er bewirtschaftet seine Parzelle mit grosser Sorgfalt und Liebe. Das Gärtnern lenkt für ein paar Stunden von Sorgen und Ängsten ab. Mit dem glücklichen Gefühl, etwas geschafft zu haben, geht es nach diesem Nachmittag nach Hause.
Michèle Graf