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«In Bern zeichnet sich der mildeste Winter seit Messbeginn ab»

Am Wochenende gabs in Bern fast 18 Grad. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Ist das noch normal? Ja und nein.

Der Winter 2019/2020 fällt in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen. Nicht nur, aber auch weil bis jetzt praktisch kein Schnee gefallen ist. Der Bärnerbär hat mehrere Experten zu Rate gezogen, die einschätzen können, wie aussergewöhnlich die Situation tatsächlich ist.

Der Gurtenbahn-Betriebsleiter
So einen Winter hat Bernhard Schmocker noch nie erlebt. An rund dreissig Tagen ist der Skilift auf dem Berner Hausberg im Schnitt in Betrieb. Dieses Jahr? Keine einzige Minute. Das gab es noch nie! «Ein bisschen Wehmut ist natürlich schon da, schliesslich betreiben wir für Skilift und Schlittelweg doch einen gewissen Aufwand», sagt der Gurtenbahn-Chef. 2004/2005, in der Eröffnungssaison, wurden 67 Betriebstage gezählt. Ein Jahr später sogar 90, im Winter 2018/2019 war der Skilift an immerhin 27 Tagen im Einsatz. Die gute Nachricht: Für ein ordentliches Betriebsergebnis braucht es keinen Schnee. «Entscheidend ist schönes Wetter», erklärt Schmocker. Immerhin in dieser Hinsicht will sich niemand beklagen. Trotzdem warten 75 Skiausrüstungen und ebenso viele Schlitten nur darauf, endlich gemietet zu werden. Bis sie wieder an die frische Luft kommen, wird es aber wohl noch eine Weile dauern. Schon Ende Woche wird der Skilift abgebaut.

Die Pollenspezialistinnen
Während einige die ausbleibende weisse Pracht aus emotionalem Frust beklagen, leiden andere tatsächlich und aus ernsthaften Gründen. Das warme Wetter führt nämlich dazu, dass gleich mehrere Pollenarten früher blühen als sonst. So wurde die Hasel bereits am 9. Januar zum ersten Mal in der Luft registriert, Ende Januar wies sie bereits starke Werte auf. «Das ist etwa drei Wochen früher als im langjährigen Mittel», führt Regula Gehrig, Bio-Meteorologin von MeteoSchweiz, aus. Die Erle ist ebenfalls fast drei Wochen eher dran als sonst. «Der frühe Blühbeginn ist schon eher aussergewöhnlich, aber nichts Einmaliges», ordnet Nadia Rutsch, Expertin von aha!, dem Schweizer Allergiezentrum, die Situation ein. 2016 und 2018 und auch schon 1994 lag der Blühbeginn ähnlich früh. Aber: «Wir beobachten in den letzten Jahren eine Häufung solcher Ereignisse», meint Regula Gehrig. Allergikern macht sie nur wenig Mut: «Es scheint insgesamt eine stärkere Pollensaison zu werden.»

Der Förster
Dass die Natur viel früher dran ist als sonst, beobachtet auch Roman Suter. Zirka zwei bis drei Wochen läge man dem eigentlichen Zeitplan voraus, sagt der für die Gemeinde Bern zuständige Förster. Ob viel oder wenig Schnee liege, spiele für die Natur kaum eine Rolle. «Es braucht einfach Wasser.» Regen jedoch fällt laut Suter immer weniger. «Nur 2014 war es richtig nass, seither ist es tendenziell zu trocken.» Er stellt in den Berner Wäldern ausserdem einen langsamen, aber steten Baumartenwechsel fest: «Rottannen, also Fichten, dürften zusehends verschwinden, da sie kältere Temperaturen gewohnt sind, und durch Eichen ersetzt werden.» Hilfe, unsere Tannenbäume verschwinden!

Die Botanikerin
Krokusse sowie Märzen- und Schneeglöckchen, so weit das Auge reicht. Im Botanischen Garten Bern ist Frühling! Das sieht ja alles wunderschön aus – bloss: werden solche Bilder in Zukunft zur Regel? «Warmes Wetter bedeutet nicht automatisch Klimawandel, sondern es ist die Häufigkeit der Phänomene», sagt Pflanzenökologin Deborah Schäfer. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Anlage ergänzt: «Insgesamt lässt sich aber schon sagen, dass sich die Blütezeit von Frühblühern nach vorne verschiebt. Seit den 60er-Jahren sind es knapp zwei Wochen.» Ob die Erderwärmung nützt oder schadet, diese Frage kann Schäfer nicht abschliessend beantworten. Noch ist die Datenlage in diesem Bereich viel zu vage. Für die Biodiversität jedenfalls sei sie sicherlich schlecht. Dazu bringe sie Veränderungen mit sich: «Ich nenne Ihnen ein theoretisches Beispiel: Schneeglöckchen werden von Hummeln und Bienen bestäubt. Fliegt die Hummel nun schon im Dezember, das Schneeglöckchen blüht aber erst im Januar, entsteht ein sogenannter Miss-Match, weil der Bestäuber fehlt oder keine Nahrung vorhanden ist.» Nicht zuletzt beschäftigt Schäfer das Artensterben, wobei, so fügt sie an, der Klimawandel «nur einer von vielen Faktoren» ist. Und nun, ist das alles noch normal? «Eine schwierige Frage. Einige Pflanzenarten können von der globalen Erwärmung sicherlich profitieren. Schwankungen beim Klima gab es zudem schon immer, nur verändert es sich schneller als je zuvor, die Geschwindigkeit des Temperaturanstiegs ist einmalig.» Märzenglöckchen müssen vielleicht bald umbenannt werden.

Der Zoologe
Eine ein- und erstmalige Beobachtung macht dieser Tage Bernd Schildger. «Dass die Ziesel schon im Februar draussen sind, das hatten wir noch nie», meint der Tierparkdirektor mit leichtem Staunen. Für Erdhörnchen in freier Wildbahn eine nicht ungefährliche Situation – es besteht die Gefahr, dass sie keine Nahrung finden und bei einem Kälteeinbruch zu wenig Energiereserven mit in ihre Behausung mitnehmen würden. Im Zoo sind die Ziesel freilich vor solchen Risiken sicher. Aus den gleichen Gründen stellen milde Winter wie jetzt auch Reptilien und Amphibien wie Schlangen oder Schildkröten auf die Probe. Selbst wenn Bernd Schildger ergänzt: «Die Interpretation einer Klimaveränderung ist etwas Menschliches. Tiere in hiesigen Gefilden antizipieren und philosophieren nicht, sie ändern einfach ihr Verhalten.»Der Zoologe Eine ein- und erstmalige Beobachtung macht dieser Tage Bernd Schildger. «Dass die Ziesel schon im Februar draussen sind, das hatten wir noch nie», meint der Tierparkdirektor mit leichtem Staunen. Für Erdhörnchen in freier Wildbahn eine nicht ungefährliche Situation – es besteht die Gefahr, dass sie keine Nahrung finden und bei einem Kälteeinbruch zu wenig Energiereserven mit in ihre Behausung mitnehmen würden. Im Zoo sind die Ziesel freilich vor solchen Risiken sicher. Aus den gleichen Gründen stellen milde Winter wie jetzt auch Reptilien und Amphibien wie Schlangen oder Schildkröten auf die Probe. Selbst wenn Bernd Schildger ergänzt: «Die Interpretation einer Klimaveränderung ist etwas Menschliches. Tiere in hiesigen Gefilden antizipieren und philosophieren nicht, sie ändern einfach ihr Verhalten.»

Der Klimatologe
Stephan Bader lässt mit folgender Aussage aufhorchen: «Mit einer Durchschnittstemperatur von 3,3 Grad zeichnet sich in Bern der mildeste Winter seit Messbeginn 1864 ab.» Und: So wenige Tage mit Neuschnee (s. Grafik) – aktuell ist es nur gerade einer, jener von Mitte Dezember – wurden bis dato noch nie registriert. Immerhin: Der Winter ist ja noch nicht vorbei. Als einzelnes Ereignis, so sagt der Klimatologe von MeteoSchweiz, könne die «extreme Winterwärme» indes sowieso nicht als Signal der Klimaveränderung bezeichnet werden. «Der Wechsel von kühlen zu warmen Wintern ist ja nach wie vor recht gross.» Entscheidend sei, da stimmt er Deborah Schäfer voll und ganz zu, die «Häufung der Ereignisse». Ohne Klimaschutz, so Bader, dürfte sich die Zahl der Berner Schneetage pro Winter allerdings von aktuell 34 auf noch etwa 9 im Jahr 2060 reduzieren.

Und nun?
Vielleicht ist der nächste Winter wieder ein äusserst weisser. Dann wird keiner mehr über den Klimawandel reden. Zumindest kurzfristig. Bis zum nächsten Wärmeeinbruch. Der Gurten sollte mal über Kunstschnee nachdenken.

Yves Schott

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