Dani Mikosch 5

Jeden Tag landen 7700 Tonnen Esswaren einfach auf dem Müll

Die sinnlose Verschwendung von Lebensmitteln muss endlich aufhören. Bloss wie? Für Daniel Nacht und Mikosch Loutsenko ist klar: Food Waste darf nicht mehr rentieren.

Es ist die Nacht auf den 26. Mai 2019. Zwei junge Männer schleichen sich auf das Areal der Migros Köniz. Dorthin, wo die Ware angeliefert wird. Ihr Ziel: Lebensmittel retten, die nicht mehr verkauft werden dürfen, aber noch geniessbar sind. Containern nennt sich das. Bloss hat der Akt für eine in ihren Augen gute, sinnvolle Sache einen Haken: Er ist illegal. Tatsächlich werden die zwei Berner bei ihrem Versuch, Food Waste zu reduzieren, an diesem Abend erwischt. Acht Polizistinnen und Polizisten stehen ihnen gegenüber, zielen teilweise mit der Pistole auf sie. Das Vergehen: versuchter Diebstahl. Hätten Daniel Nacht (27) und Mikosch Loutsenko (24) eine Busse von je 1000 Franken bezahlt, hätten sie einen Strafregistereintrag erhalten – und die Sache wäre erledigt gewesen. Doch das wollen sie nicht. Deswegen erheben sie Einsprache. Anfang dieses Monats kommt es vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland deshalb zur Verhandlung. Sie endet… mit einem Freispruch. Dieser erfolgt allerdings aus formellen und nicht aus politischen Gründen. Daniel und Mikosch sind unzufrieden. Sie hätten gerne ein ethisches Ausrufezeichen gesetzt, eine Art Präzedenzfall geschaffen. Die Enttäuschung ist den beiden auch zwei Wochen nach dem Urteil anzumerken. Der Bärnerbär trifft Daniel und Mikosch im Wartsaal in der Lorraine. Sie üben Kritik am System. «Dass sich Überproduktion überhaupt lohnt, liegt am Kapitalismus», ereifert sich Daniel. «Man rechnet bereits damit, Essen wegzuschmeissen. Kaum leert sich irgendwo ein Regal, stehen die nächsten Paletten bereit.» Seine Forderung: Food Waste darf wirtschaftlich nicht mehr rentieren.

Kritik an der Migros
Vor rund sechs Jahren, erzählen sie, hätten sie begonnen, sich ernsthafter mit dem Thema auseinanderzusetzen. Politik interessierte Daniel, der Soziale Arbeit studiert und dazu in einer Asylunterkunft arbeitet, schon länger. So nahm er unter anderem an Klimaprotesten teil. «Durch Freundschaften, das Studium und die daraus entstandenen politischen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Themen geriet ich in aktivistischere Kreise.» Und ergänzt: «Einer meiner Kollegen hat mir damals gezeigt, wie Containern abläuft.» Dahinter steckt eine ideologische sowie eine praktische Sicht. Einerseits sehen sich Daniel und Mikosch moralisch dazu verpflichtet, Joghurts mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum und überschüssiges Brot zu retten. Andererseits können dadurch Menschen oder ganze WGs mit Nahrung beliefert werden. «Wir bekämpfen zwar nur Symptome, generieren aber keine neue Nachfrage», erklärt Daniel seine Motivation 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in der Schweiz jedes Jahr auf dem Müll. Das sind über 230 000 Tonnen pro Monat oder knapp 7700 Tonnen pro Tag. Am meisten Food Waste entsteht laut Bundesamt für Umwelt BAFU in der Verarbeitung (38 Prozent), knapp gefolgt von den Endkonsumenten (31 Prozent). Und noch zwei Zahlen: Jede Schweizerin und jeder Schweizer erzeugt pro Jahr 330 Kilo Food Waste oder etwa ein Viertel der Treibhausgase, die auf das Konto unserer Ernährung gehen.

«Man rechnet bereits damit, Essen wegzuschmeissen.»

«Wir möchten alle Seiten in die Verantwortung nehmen. Die Konsumentinnen und Konsumenten sollen sich bewusst werden, in welche Art von Landwirtschaft respektive in welche Produkte sie investieren. So kann möglicherweise ein neuer Kreislauf entstehen.» Man wolle, das betont Mikosch, nicht missionieren, sondern die Leute zu einem Um- und Nachdenken bewegen. Perfekt sei schliesslich niemand. Kritik üben sie dafür namentlich an der Migros. Der Grossverteiler, führt Daniel aus, brüste sich damit, knapp 99 Prozent seiner Lebensmittel an die Verbraucher zu verkaufen oder sie an gemeinnützige Organisationen abzugeben. «Wie hoch der Anteil für diese Organisationen ist, weiss hingegen niemand.» Dazu stelle sich die Frage, ob das Weiterspenden oder die Abgabe an Zweitverteiler nicht einfach eine praktische Problemverschiebung sei, bei welcher ein ökonomischer und/oder ein PR-Vorteil gesichert wird. Zudem habe die Migros im Gegensatz zum direkten Konkurrenten Coop keine Nachhaltigkeitsleitsätze festgeschrieben. Reduktion von Plastik oder CO2-Emissionen? Fehlanzeige.

Der Fehler liegt im System
Wie der perfekte ökologische Kreislauf aussehen würde? Mikosch, der als Kulturschaffender tätig ist, führt die Solidarische Landwirtschaft ins Feld. Dabei verpflichten sich Endkonsumenten per Vertrag, den Landwirtinnen und Landwirten eine vordefinierte Menge an Früchten oder Gemüse abzukaufen, die sich meist in Form von Abos definiert. Für den Fleischkonsum zum Beispiel wird eine Kuh dann geschlachtet, wenn alle ihre Teile im Vornherein verkauft wurden. Dazu verpflichten sich die Abo-Käufer bei den meisten solcher Höfe, an abgemachten Tagen direkt bei der Ernte mit anzupacken. Bei einem Ernteausfall oder -überschuss bleibt der Preis allerdings gleich. Der Bauer oder die Bäuerin gerät so nicht unter finanziellen Druck und kann mit einem bestimmten Ertrag rechnen. Klingt in der Theorie schon mal gut – doch ist eine solche Praxis mit der heutigen Gesellschaft überhaupt vereinbar? Mikosch entgegnet: «Ob jemand regional und saisonal einkauft, hat mit der persönlichen Einstellung und den finanziellen Möglichkeiten zu tun. Momentan handelt es sich um eine Nische, ja, aber um eine, die stets salonfähiger wird. Gerade während des Corona-Lockdowns wurde manchem bewusst, wie wichtig lokale, nachhaltig wirtschaftende Betriebe sind.» Daniel kommt erneut auf das System zu sprechen. «Dass Menschen auch in der Schweiz zu wenig zu essen haben, ist ein Fakt, aber nicht das Problem – es ist bloss ein Symptom. Zu viele Lebensmittel auf der anderen Seite sind ebenfalls nur ein Symptom. Die Ursache liegt woanders: Es wird zu viel produziert, weil es sich lohnt.» Der Staat, verlangt er, müsse hier zwingend Verantwortung übernehmen. «Stattdessen überträgt er sie den Unternehmen, welche mit ihren Überschüssen Armutsbetroffene beliefern. Symptome werden hier mit Symptomen bekämpft.» Daniel und Mikosch möchten aufklären, mit den Menschen reden, sie mit dem eigenen Verhalten konfrontieren. Das Urteil vom 8. September hat sie vielleicht etwas frustriert, aber gleichzeitig in ihrem Ziel bestärkt: Die Zahl von vernichteten Lebensmitteln muss verringert werden. Auch weiterhin mit illegalem Containern? «Einzelrichterin Bettina Bochsler hat uns dazu ermutigt, uns weiterhin fürs Klima einzusetzen», antwortet Mikosch. Einen gewissen Vorteil hatte die Gerichtsverhandlung übrigens dann doch noch: Durch die Medienberichte auf die beiden jungen Herren aufmerksam geworden, meldete sich eine Kollegin, deren Vater Leiter der Verkaufsregion der Migros-Aare Schönbühl ist. Mit ihm treten sie nun in Kontakt. Um zu diskutieren, Meinungen auszutauschen – und möglicherweise den einen oder anderen Stein ins Rollen zu bringen. Food Waste ganz zu verhindern – das ist wohl illusorisch. Ihn einzudämmen hingegen bereits ein grosser Schritt in die richtige Richtung.

Yves Schott

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