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«Jemand hat sein Auto verkauft, um Benzin zu sparen»

Menschen im Kanton Bern in Existenznöte. Denn: Rund 10 Prozent von ihnen sind arm. Einige müssen deshalb nun harte Massnahmen treffen.

Silja Wenk, wie viele Leute im Kanton Bern sind eigentlich arm?
Wir rechnen mit rund 100 000 Personen. Daneben gibt es jedoch etliche armutsbedrohte Menschen. Personen also, bei denen es nur wenig braucht, bis sie in die Armut abrutschen. Auslöser kann eine teure Zahnarztrechnung sein – oder eben wie gerade jetzt die Teuerung.

Was sind das für Menschen, die von Armut betroffen sind?
Die Armut hat ganz unterschiedliche Gesichter. Oft sind es Leute mit Migrationshintergrund. Oder ältere Menschen, die nur eine knappe Rente
beziehen – oder alleinerziehende Eltern.

Woran merken Sie bei Caritas Bern, dass gerade Krise herrscht?
Manche sagen, sie hätten Angst. Angst davor, im Winter in einem kalten Zuhause zu sitzen und sich kein warmes Essen leisten zu können. Ursachen sind die gegenwärtige Inflation sowie die drohende Energiekrise.

Ist die Angst aus Ihrer Sicht berechtigt?
Individuell gesehen durchaus. Wir kennen zahlreiche Personen, die sich finanziell gerade mal so von Monat zu Monat durchschlängeln, ohne Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Einerseits aus ausländerrechtlichen Gründen – möglicherweise verschlechtert sich dadurch ihre Chance, an eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung zu kommen – oder aus eigenem Ehrgefühl.

Sahen sich manche Ihrer Klientinnen und Klienten aufgrund der aktuellen Lage bereits konkret zum Handeln gezwungen?
Durchaus. Jemand hat zum Beispiel sein Auto verkauft, obschon er nur so seine drei Jobs ausführen konnte. Nun hat er zwar eine Vespa und weiss noch nicht, was das für den Winter bedeutet, spart so aber einiges an Benzin. Andere wiederum schieben fällige Arztbesuche teilweise jahrelang auf.

Haben Sie auf die angespannte Situation reagiert?
In unseren Caritas-Märkten ist schon seit einigen Wochen mehr Personal im Einsatz, denn: Es wird mehr eingekauft. Und anders. Die Umsätze steigen deutlich an. Wir treffen Gesichter an, die wir vor einigen Wochen noch nicht kannten.

Was meinen Sie mit: Es wird mehr eingekauft?
Mehr aufs Mal. Zudem sind Fleisch und Joghurt um einiges gefragter als früher, was wir in einen kulturellen Kontext mit der Ukraine stellen.

Darf eigentlich jeder und jede in einem Caritas-Markt einkaufen?
Nein, die Märkte sind jenen mit knappem Budget vorbehalten. Dafür müssen sie entweder ihre KulturLegi zeigen oder können eine Marktkarte beantragen.

Welche Spartipps geben Sie Leuten mit wenig Budget?
Wir haben einen eigenen Ratgeber erstellt, der «Günstig und gut» heisst. Darunter finden sich altbekannte Tipps wie im Supermarkt auf Aktionen zu achten oder vor Ladenschluss reduzierte Artikel zu kaufen. Dann sollte Food Waste wenn möglich verhindert werden. Dazu weisen wir auf öffentliche Essensausgaben und Kühlschränke hin. Es lohnt sich, die persönliche Situation ganz genau anzuschauen. Menschen mit Migrationshintergrund etwa teilen wir mit, dass sie für ihre Krankenkassenprämien Verbilligungen beantragen dürfen. Ausserdem: Haben sie Zusatzversicherungen? Wenn ja: Braucht es diese zwingend?

Armut in der Schweiz – sie scheint für viele generell inexistent.
Armut in der Schweiz stagniert seit Jahren respektive sie nimmt tendenziell leicht zu. Das ist für ein reiches Land im Grunde genommen ein Skandal. Man muss bedenken: Fast in jeder Schulklasse sitzt ein Kind, das von Armut betroffen ist. Klar ist es ein unangenehmer Gedanke, sich damit zu beschäftigen. Kommt hinzu, dass die Schuld für die Situation den Individuen zugeschrieben wird.

Und das ist falsch?
Wir reden nicht gerne von Schuld, denn kaum jemand ist arm, weil er faul ist. Es gibt verschiedene Faktoren. Viele hatten von Kind auf schlechtere Startbedingungen, konnten nie auf eine höhere Schule, weil vielleicht bereits die Eltern zu wenig Geld hatten, kämpfen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Erschwerte Startbedingungen sind beispielsweise, dass ein Kind in der Schweiz bis 6-jährig hier leben kann, ohne in einer der Landessprachen gefördert zu werden – das ist in anderen Staaten besser geregelt. Wir bei der Caritas sind der Meinung, dass die staatlichen Organisationen Armut auffangen müssten. Würde der Staat seine Aufgaben machen, könnten wir uns quasi selber abschaffen.

Was kann ich selbst gegen Armut tun?
Weniger konsumieren wäre eine Möglichkeit. Die Caritas hat vor einigen Jahren zusammen mit mehreren grossen Unternehmen anstelle des Black Friday den Fair Friday organisiert, wo im Laden neben der Kasse zum Beispiel ein Spendenkässeli steht oder im Onlineshop der Betrag zugunsten eines guten Zwecks aufgerundet werden kann. Und selbstverständlich darf man an vertrauenswürdige Organisationen spenden. Nicht zuletzt: Augen aufmachen. Manchmal wohnt direkt in der Nachbarschaft oder im Dorf eine arme Person, die Unterstützung nötig hat.

Wird sich die Situation auf den Winter hin weiter zuspitzen?
Ich besitze leider keine Kristallkugel. Wir erwarten allerdings im Januar 2023 einen Preisschock: wegen der neuen Strompreise und Krankenkassenprämien.

Was empfehlen Sie Geringverdienern?
Wer es sich erlauben kann, finanzielle Rückstellungen zu machen, soll das unbedingt tun, auch kleine Beträge lohnen sich. Lohnenswert ist auch eine Budgetaufstellung, um einen Überblick zu erhalten, wo das eigene Geld überhaupt hinfliesst.

Yves Schott

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