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«Kritiker werden in eine bestimmte Ecke abgeschoben»

Wieso stellen viele Medien Massnahmengegner in die rechte Ecke? Und wurde wirklich ein «Sturm aufs Bundeshaus» verhindert? Soziologin Katja Rost unterzieht die Coronalage einem Faktencheck.

Ist die Gesellschaft wirklich so gespalten, wie allgemein suggeriert wird?
Die ganze Situation wird von den Medien schon sehr stark hochgekocht. Rund 80 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer bewegen sich nicht an den gesellschaftlichen Rändern. Die Ränder, die es selbstverständlich gibt, sind aber sehr lautstark, veranstalten Kundgebungen und möchten ihre Meinung durchsetzen. Dies gilt übrigens für beide Extreme, also auch jene, die die Massnahmen sogar noch verschärfen möchten und das oft ebenso lautstark fordern.

Was auffällt: Wer sich nicht an die Regeln hält – einzelne Personen oder manche Betriebe –, wird sofort verpetzt.
Richtig, die soziale Kontrolle ist immens. Viele möchten, dass die eigenen Normen auch auf andere angewendet werden. Und dafür braucht es Sanktionen, wie beispielsweise Petzen oder im schlimmsten Fall Aggression.

Woher kommt diese Haltung?
Zum einen liegt es an unserem Gruppenverhalten, hinzu kommen die sozialen Medien. Massnahmengegner etwa behaupten häufg, es sei eine Elite, die über ihr Schicksal befnde. Auf Facebook oder Twitter muss man sich indes mit niemandem auseinandersetzen, der eine gegenteilige Ansicht vertritt – und glaubt schliesslich, alle würden so denken. Bei den strikten Massnahmenbefürwortern passiert genau dasselbe: Auch hier ist man der Meinung, weil man sich in der eigenen Blase bewegt, dass nur eine Minderheit der Gesellschaft eine andere Meinung vertritt.

Sie plädieren dafür, mit Augenmass zu handeln?
Absolut. Das ist der Schweizer Weg. War er schon immer.

Wie würde folglich Ihr pragmatischer Ansatz lauten?
Möglichst niemanden von öffentlichen Gütern wie Bildung, Verkehr und Soziales ausschliessen. Also 3G statt 2G. Zudem sollte man sogenannte Niedrigkostensituationen schaffen: Ungeimpfte müssen gewisse Zusatzkosten übernehmen, um am gesellschaftlichen Leben weiterhin teilzunehmen. Diese Kosten sollten allerdings sozial verträglich sein. Hier kann man sich nun streiten, ob nicht bereits die psychischen Kosten des immensen Zeitaufwands für regelmässiges Testen ausreichend sind. Denn auch diese tragen dazu bei, dass sich mehr unentschiedene Personen impfen lassen. Im Gegensatz zu der nun beschlossenen Regelung, dass die Kosten für die Tests selbst übernommen werden müssen – eine Hochkostensituation – fühlen sich Personen weniger unter Druck gesetzt. Druck führt immer zu Reaktanz und damit zu gesellschaftlichen Unruhen.

Was halten Sie denn von der 3GRegel in Restaurants und Kinos?
Aus medizinischer Sicht ist 3G der richtige Weg. Trotzdem verwunderte es, dass die Schweiz, die lange Zeit erfolgreich an die Selbstverantwortung appellierte, den Ansatz obrigkeitshöriger Staaten wie Deutschland oder Frankreich übernommen hat. An diesem Vorgehen entzündeten sich die Proteste: Das passt eigentlich nicht zu diesem Land. Mein Eindruck ist, dass kaum jemand weiss, was zu tun ist. Ein politisch risikoloses Vorgehen ist, die Massnahmen anderer Staaten zu kopieren. Falls etwas schiefgeht, sind alle schuld.

Was ist mit der Zertifkatspficht an Unis?
Ihnen wurden nur zwei Möglichkeiten gelassen: entweder 3G oder eine Belegung der Hörsäle von bloss zwei Dritteln. Sprich: Sie hatten eigentlich keine Wahl.

Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause sprach von einem «Sturm aufs Bundeshaus». Hat er übertrieben?
So viele Menschen waren nun auch nicht da. Es handelte sich um ein zivilbürgerliches Engagement, das von einer einprägsamen, medienwirksamen Symbolik proftiert hat – ähnlich wie es zum Beispiel die Plakate der SVP tun. Rein von der Anzahl der Personen vor Ort ist die Aussage von Herrn Nause wohl falsch. Doch wie gesagt: Die Verärgerung über die zentralistische Haltung des Bundesrats ist in der Bevölkerung teilweise enorm. Und hier handelt es sich zahlenmässig um keine kleine Gruppe.

Der Punkt ist: Nicht alle Corona-Kritiker sind Verschwörer und Schwurbler.
Das hat viel mit Selbstrefexion zu tun. Die meisten Medien verordnen sich eher im politisch linken Spektrum, ebenso wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Von da her rührt die oft klare Position, was das Impfen anbetrifft, gleichzeitig werden Kritiker in eine bestimmte Ecke abgeschoben. Allerdings: Bei der SVP fnden wir die höchste Rate an Impfverweigerern, das Ganze hat also durchaus eine politische Dimension.

Wieso sind Menschen auf dem Land eigentlich skeptischer als die in den Städten?
Das hat weniger mit einem StadtLand-Graben als mit Selbstselektion zu tun. Leute, die linker und progressiver sind, ziehen in die Städte und studieren dort. Auf dem Land entscheidet man sich häufger für eine Lehre. Diese Kluft wird dann von selbst immer grösser, eine Art Eigendynamik. Auf dem Land ändern sich Haltungen weniger schnell.

Wie viele stehen dem Thema denn ambivalent entgegen?
Ich würde sagen zwischen 30 und 40 Prozent. Das sind jene, die sich schwer damit tun, sich impfen zu lassen. Teilweise aus sehr unterschiedlichen Gründen.

Wie gehen wir mit diesen Menschen um?
Wie bereits gesagt, ist Zwang das falsche Mittel. Dies provoziert Widerstand und verstärkt damit Proteste, Spaltung und Aggression in der Gesellschaft. Viele Covid-Massnahmen sind diesbezüglich eher suboptimal geregelt. Beispielsweise gibt es ein ziemliches Gerangel darum, wer die Verantwortung für die Einführung neuer, unangenehmer Massnahmen übernimmt: der Bundesrat, die Kantone oder die Unternehmen und Organisationen? Klar ist nämlich: Wie man es macht, ist es falsch. Man kann Befürwortern und Gegnern nie gleichermassen entgegenkommen.

Ein klassisches Kommunikationsproblem.
In Folge des Gerangels um Verantwortlichkeit: ja. So bieten die Unis jetzt für einen Übergangszeitraum kostenlose Tests an. Zwischenzeitlich war dies aber nicht geklärt, da niemand wusste, wer verantwortlich ist. In diesem Vakuum gingen viele davon aus, dass Tests kostenpflichtig sind und damit einige Studierende von heute auf morgen von Bildung ausgeschlossen werden. Am Ende hat man hier also offiziell zwar einen Kompromiss gefunden. In den Köpfen der Kritiker fühlt es sich allerdings eher wie verordneter Zwang an.

Sollten kritische Demonstrationen wie die in Bern verboten werden?
Unter Einhaltung der Spielregeln unbedingt erlauben. Meinungsfreiheit ist für demokratische Gesellschaften essenziell und verhindert damit auch eine tiefere Spaltung. Und ein Protest macht sich selbst unglaubwürdig, wenn er sich nicht an die behördlichen Aufagen hält.

Yves Schott

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