Cap Bb Zwüschehalt Bern 9

Männer bezeichnen sich ungern als Opfer

Mit dem Männerhaus Bern hat der Verein ZwüscheHalt eine sichere Zuflucht für Gewaltopfer geschaffen. Leiterin Sieglinde Kliemen stärkt den Betroffenen den Rücken und kämpft gegen gesellschaftliche Klischees.

Kein Laut dringt an diesem sonnigen Nachmittag über die Schwelle des Hauses. Es scheint so, als wisse das Gemäuer um seinem Auftrag: «Wer in mir wohnt, der ist in Sicherheit.» An ihrem kleinen Schreibtisch in einem Nebenraum sitzt Sieglinde Kliemen, barfuss, konzentriert. Einen Moment atmet sie die Stille ein, bevor sie über den Zweck des Ortes spricht. «Dies ist ein Haus für gewaltbetroffene Männer, die in einer Not- oder Bedrohungssituation hier Schutz suchen können. Es geht darum, den Konflikt zu verlassen, um Ruhe zu finden, Perspektiven zu gewinnen und die nächsten Schritte anzugehen. Die Männer können alleine hier wohnen oder auch als Väter mit ihren Kindern», erklärt die Initiantin und Leiterin des Männer- und Väterhaus ZwüscheHalt in Bern. Der Standort im Stadtgebiet soll geheim bleiben. Zu viel haben die Bewohnenden über die Jahre erlebt. Mit ihrem Anliegen macht sich Kliemen bewusst für eine Opfergruppe stark, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft ausgeblendet wird. «Wenn ich helfe, dann Menschen, die sonst durch die Raster des Systems fallen», erinnert sie sich an die Anfänge ihres Engagements. Bei ihrer Suche stiess sie auf das Thema Gewalt gegen Männer. «Für gewaltbetroffene Frauen gibt es zahlreiche gute Angebote und Beratungsstellen, für Männer existierte offenbar nichts.» Dann stiess sie auf den Verein ZwüscheHalt, der schon einen Zufluchtsort im Kanton Aargau aufgebaut hatte. Vor fünf Jahren konnte Kliemen dann das Männerhaus in Bern lancieren, der Standort im Aargau existiert nicht mehr; inzwischen gibt es aber auch ein Haus in Luzern und neu eines in Zürich. «Solch ein Projekt muss vor Ort sein. Die Männer müssen weiterhin arbeiten, sind in ihr Umfeld eingebunden. Zum Männerhaus kann man schlecht pendeln.»

Der Kanton bezahlt nichts
In der Regel kommen die Betroffenen aus einer akuten Situation heraus, brauchen Zeit zum Verarbeiten, um ihr Leben neu zu ordnen. «Manche bleiben 14 Tage, andere benötigen ein halbes Jahr.» Kliemen und ihre Kollegin stehen den 19 Männern, die durchschnittlich pro Jahr ins Haus kommen, aktiv zur Seite. Mit Pragmatismus, offenem Ohr und Herzlichkeit. Von der kaputten Glühbirne über emotionale Telefone bis hin zu Behördengängen helfen sie in allen Belangen. Der Lohn ist bescheiden, das Männerhaus finanziert sich aus Spenden. «Wenn die Kriterien erfüllt sind, zahlt auch manchmal die Opferhilfe für den Platz», erklärt Kliemen, während sie in den hellen Aufenthaltsraum geht und sich auf eines der altmodischen Sofas setzt. TV, Computerecke, Teppich. Schlicht und funktional. «Wir haben wirklich versucht, hier kaum Geld auszugeben.» Die meisten Möbel sind zusammengesammelt. Einen Leistungsvertrag mit dem Kanton gibt es ebenso wenig wie anderes Geld von öffentlichen Stellen. «Wir sind eine rein private Initiative. Wir müssen immer balancieren und effizient den Bedarf decken», sagt sie und fügt an: «Ob grosse oder kleine Spenden – ehrlich, ich freue mich über 20 Franken, die reinkommen.» Oft zahlen die Männer ihre Zimmer selbst, doch Kliemen will nicht, dass der Aufenthalt im Haus eine Frage des Geldes wird. Vom Sozialhilfeempfänger bis hin zum Facharzt, Schweizer bis Ausländer, reiche die Liste der Bewohner. «Heute wollte eigentlich ein Chirurg mit zwei Kindern kommen, hat aber kurzfristig abgesagt. Er wolle die Sache noch besser planen. Die Situation daheim ist prekär.» Die Hemmschwelle, sich als Mann Hilfe zu suchen, ist immer noch gross. «Wir stellen fest, dass sie oft erst zu uns kommen, wenn sie total erschöpft sind, im Burnout. Sie probieren immer wieder durchzuhalten, weil das Vorurteil, ein Mann müsse doch seine Probleme selbst lösen, so präsent ist. Sonst ist er ein Versager.» Dazu kommt die Sorge um die Kinder oder wie es der instabilen Partnerin geht, wenn er sie plötzlich verlässt. «Männer bezeichnen sich ungern als Opfer.»

Mich regen die Reaktionen von feministischen Aktivistinnen auf, wenn sie alles einseitig darstellen. – Sieglinde Kliemen

Vorurteile und Stereotype
Gesellschaft und Behörden hängen am Bild der guten Mutter, die ohne Kinder leidet, und des gewalttätigen Vaters, der seine Kinder vernachlässigt. Dabei erlebt Kliemen im Männerhaus das Gegenteil. Frauen, die ihre Kinder schlagen, mit den Schwiegereltern auf ihren Mann einprügeln, Drucksituationen schaffen. «Ich stehe gerade im Kontakt mit einem Kosovo-Albaner, der von seiner Frau geschlagen wird», berichtet sie. Das Rechtssystem ist selten aufseiten der betroffenen Männer. Wehrt sich einer gegen seine gewalttätige Partnerin, ist er sofort Täter. «Wir sagen den Männern stets, dass sie sich keinesfalls physisch wehren sollen.» Sind Kinder involviert, muss das Männerhaus mit äusserstem Fingerspitzengefühl und Präzision vorgehen. «Wenn in einem Konflikt eine Mutter die Kinder mitnimmt und flieht, ist das selbstverständlich und richtig. Tut das ein Vater, ist er ein Kindesentführer.» Frauen seien geschickt darin, falsche Beschuldigungen zu erheben, Missstände nach aussen hin zu verbergen und manipulative Bindungen zu etablieren, berichtet Kliemen. Beistände sind oft weniger an der Aufklärung der häuslichen Gewaltfälle interessiert als an der schnellen Rückführung der Kinder zur Mutter. Sobald der Verdacht ausgesprochen ist, der Vater sei gewalttätig, darf er die Kinder nur noch unter Aufsicht sehen. Kliemen macht das wütend: «Mich regen die Reaktionen von Behörden, Gleichstellungsbüros, Politikern und feministischen Aktivistinnen auf, wenn sie alles einseitig darstellen. Wem bringt es etwas, auf einem Auge blind zu sein?» Die ersten 14 Tage im Männerhaus sind so oft ein Rennen gegen die Zeit. Die studierte systemische Beraterin steht in Kontakt mit Kesb, Anwälten, Fachstellen und Opferberatung. «Es gibt keine Situation, die ich noch nicht erlebt hätte. Die Geschichten wiederholen sich», resümiert sie nach fünf Jahren im Männerhaus. «Manche gehen auch zur Frau zurück.» Ein fröhliches «Ciao» durchbricht die Ruhe. Einer der Männer ist gerade zurückgekehrt. «Durch ihn hat sich mein Italienisch um 100 Prozent gesteigert», schmunzelt Kliemen. Leider gibt es danach keine guten Nachrichten. Für die IV brauche er Kopien der Pässe seiner Kinder, die Mutter verwehrt den Zugang, obwohl das Geld den Kindern zugutekommen würde. Kliemen kennt diese Spielchen. Sie fragt kurz, ob sie helfen kann, lässt die Bewohnenden sonst ihren Alltag leben. Derzeit ist das Haus nicht voll belegt. Im oberen Stockwerk zeigt sie eines der Zimmer mit zwei Betten, Schrank und Tisch. Badezimmer und Küche werden geteilt. Mit Blick auf den Garten reflektiert Kliemen die guten Momente. «Es ist toll, wenn die Schwere abfällt und das Lächeln zurückkehrt. Die Männer sind immer erstaunt, wie schnell die Kinder sich hier beruhigen und aufblühen.» Oft kommen sie aus kontrollierten Haushalten, durften nichts. «Ein Vater sendete mir mal ein Foto, auf dem sein dreijähriger Sohn im Männerhausgarten zum ersten Mal ein Blatt in der Hand hält. Die Mutter hatte vorher alles verhindert.» In solchen Episoden sammelt Kliemen Kraft zum Weitermachen – mit Langmut, Hoffnung und Gelassenheit.

Michèle Graf

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