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«Man darf sich freuen: Die Lebensqualität nimmt zu»

Bern ist im Wandel. Stadtplaner Mark Werren erklärt, welche Quartiere sich am stärksten verändern werden, wieso Hochhäuser kein Rezept gegen die Wohnungsnot sind und wie Bern in 20 Jahren aussieht.

Sie haben für unser Gespräch den Neubau Stöckacker Süd ausgesucht. Wieso?
Es handelt sich um ein städtisches Leuchtturmprojekt. Hier wurden zum ersten Mal im grossen Massstab städtische Wohnungen abgerissen und neu gebaut – und zwar unter Miteinbezug der Bewohnenden, denn diese mussten ja aus- und umziehen. Ausserdem finden sich hier verschiedene Wohntypen: Räumlichkeiten für Familien, Singles, Menschen mit Behinderung oder WGs sowie zahlreiche, unterschiedliche Nationalitäten. Eine Durchmischung wird aktiv gefördert. Zudem erfüllen die Häuser die Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft. Und: Die Leute können sich an der Gestaltung ihres Aussenraums beteiligen. Wir als Stadt möchten weitere solcher Anlagen realisieren und Private ermuntern, das ebenfalls zu tun.

Wie sieht Berns Wohnstrategie denn eigentlich aus?
Der Gemeinderat hat seine Wohnstrategie auf eine «Wohnstadt der Vielfalt» ausgelegt. Darin finden sich viele Ziele und Massnahmen für die Zeit bis 2030. Im Zentrum stehen dabei der städtische, preisgünstige und gemeinnützige Wohnungsbau. Die Stadt will dabei vermehrt selber bauen, aber auch gemeinnützige Trägerschaften, das selbstverwaltete Wohnen und im Wohnumfeld auf die Mitbestimmung selbstverantwortlicher Nachbarschaften setzen.

Sie streben möglichst viele Arten von Wohnformen an?
Ja, für möglichst viele Einkommensschichten und Wohnmodelle, das sehen Sie am Beispiel Viererfeld. Generell lässt sich sagen, dass die Belegungsdichte ein zentrales Thema ist. Denn hier liegt der eigentliche Grund für die Wohnungsnot: Wir brauchen viel zu viel Platz. Heute verfügen wir über viel mehr Wohnfläche als in den 1960er-Jahren, und doch leben weniger Menschen in Bern. Das hat mit unseren Komfortansprüchen zu tun; wir können es uns leisten. Ideal wäre, wenn eine 4½-Zimmerwohnung von mindestens drei, besser vier oder fünf Personen belegt wird statt zweier Singles.

Deswegen denken viele nun wieder über Hochhäuser nach, der Ausdruck «Bernhattan» machte die Runde.
Wenn es sich um Arbeitsplätze handelt, ist das unproblematisch. Persönlich mag ich den Ausdruck «Bernhattan» weniger, schliesslich streben wir ja nicht die Lebensqualität der Schluchten von New York an. Wohn-Hochhäuser stellen bezüglich Verdichtung keine optimale Lösung dar. Denn zwischen den Bauten benötigt es ebenso viel Platz, namentlich für Gärten und Spielplätze, und wir haben das grosse Problem des Schattenwurfs. Konkret weisen das Tscharnergut oder Wittigkofen eine viel tiefere Ausnutzungsdichte auf als etwa die Länggasse oder die Altstadt. Auf einen Quadratmeter Land kommen dort nur zirka 1,1 Quadratmeter Wohnfläche. Im Viererfeld wird das Verhältnis fast doppelt so hoch sein.

Welche Stadtteile haben denn eine besonders starke Entwicklung hinter sich?
In Gründerzeitquartieren wie dem Breitenrain, Mattenhof oder im Kirchenfeld bewegt sich relativ wenig. Diese Gebiete weisen bereits eine hohe Bau- und Lebensqualität auf und sind schon mehrheitlich dicht bebaut. In anderen Gebieten wie rund um das Tscharnergut oder dem Entwicklungsschwerpunkt Ausserholligen ist die Notwendigkeit einer Veränderung oder Aufwertung markant grösser. Im Ostring etwa soll der Raum rund um die heutige Autobahn dereinst viel attraktiver werden. Diese Quartiere sollen in Zukunft eindeutig wohnlicher werden, wobei wir hier von einem Zeitrahmen von mindestens zehn oder gar zwanzig Jahren reden.

Die Hochhäuser in Berns Westen stammen aus den 50er- und 60er-Jahren. Besteht akuter Sanierungsbedarf?
Ein grosser, flächendeckender Erneuerungsbedarf existiert in Bern zum Glück kaum. In jedem Quartier gibt es ältere, günstigere Wohnungen, auf die zahlreiche Menschen angewiesen sind. Gleichzeitig entstehen neuwertige, «bessere» Wohnareale mit modernen Standards. Für mich als Stadtplaner ist wichtig, dass wir in jedem Quartier ein funktionierendes Wechselspiel von alt zu neu und einen ausgewogenen Mix an solch unterschiedlichen Wohnbeständen haben.

Die Qualität von Wohnraum hat einen entscheidenden Einfluss auf deren Bevölkerung respektive die soziale Durchmischung.
2016 beschloss der Gemeinderat das neue Stadtentwicklungskonzept STEK. Dafür haben wir das Stadtgefüge mit Experten wie Städteplanern und Soziologen tiefgreifend analysiert. Das Fazit war, dass die Stadt bereits gut durchmischt ist. Es gibt an den meisten Orten hochwertige sowie preisgünstige Wohnungen, praktisch überall leben auch Sozialhilfeempfänger. Natürlich weist das Kirchenfeld andere Bevölkerungssegmente auf als Bern-West, aber gerade dort fühlen sich viele sehr zuhause und möchten nie von da weg.

Lebensqualität bedeutet nicht zuletzt eine gute Infrastruktur.
Richtig. Wir helfen mit, diese Infrastruktur zu planen. Dazu gehören Schulhäuser, Sportanlagen, Parkanlagen oder Entsorgungshöfe. Wir überlegen uns ständig, wo Investitionen sinnvoll sind. Dabei sind wir auch im laufenden Gespräch mit den Quartiervertretungen und Interessensgruppierungen.

Wo wollen Sie in diesem Zusammenhang sonst noch den Hebel ansetzen?
Wir nutzen vielfach die Initiativen Dritter. Wenn Bauwillige vorsprechen, prüfen wir die Bedürfnisse in der Nachbarschaft und verbinden die Interessen zu ganzen Areal- oder Gebietsentwicklungen. Es gibt auch Überraschungen: Dem Breitenrain fehlte es beispielsweise an Schulraum, obwohl dort seit Jahren kaum neue Wohnungen entstanden sind.

Wie erklären Sie sich diese Tatsache?
Die Anwohnerinnen und Anwohner haben offensichtlich mehr Kinder als früher. Ein anderes Beispiel: Im Mattenhof-Quartier entstehen derzeit am meisten Arbeitsplätze. Nun stellt sich die Frage, welche Wohnungen es da braucht. Solche für Familien oder Kleinwohnungen für medizinisches Personal? Solche Veränderungen sind nur schwer steuerbar. Darf ich Ihnen noch ein Beispiel geben?

Gerne.
In Bern gibt es mehr Arbeitsplätze als Einwohnende. In einer «ausgewogenen» Stadt liegt das Verhältnis aber umgekehrt, etwa bei eins zu vier. Das heisst: In Bern leben vergleichsweise wenige Menschen, was zu enormen Pendlerströmen führt und viele unserer Verkehrsprobleme erklärt, den Stau auf der Stadtautobahn etwa. Deswegen müsste es im Interesse aller liegen, dieses Missverhältnis auszugleichen, und mehr Wohnraum zu schaffen.

Wie beeinflusst das Coronavirus momentan Ihre Tätigkeit?
Es liegt auf der Hand, dass die Einschränkungen auch uns bremsen. Stadt und Privatwirtschaft wollen bauen – aber zugleich wollen und müssen wir qualitäts- und sinnvolle Planungsinstrumente liefern. Dahinter stecken viele Prozesse, an denen Grundeigentümer und Investoren, Nachbarschaften, das Quartier, Behörden und die Politik beteiligt sind. Das bedingt Verhandlungen, Partizipation, den direkten Dialog. Ein Teil davon kann auf digitalen Kanälen abgewickelt werden, aber nicht alles. Das zeigt, welch hohen Stellenwert persönliche Gespräche und das physische Zusammenkommen haben.

Wie sieht Bern in zehn, zwanzig oder vierzig Jahren aus? Lässt sich das überhaupt prognostizieren?
Ich denke, das Bild von Bern wird an vielen Orten gleichbleiben. Doch es wird zu punktuellen Änderungen kommen. Eine grosse Umstrukturierung erwarte ich im Raum Wankdorf, insbesondere die Weiterentwicklung der Wankdorf-City. Sicherlich Ausserholligen, konkret denke ich an die drei geplanten Hochhäuser auf dem ewb-/BLS-Areal und den Campus der Fachhochschule. Oder das Warmbächli und später das Viererfeld. Zudem entsteht zurzeit auf dem Insel-Areal eine dichte Arbeitsstadt. Auch der Bahnhof mit dem neuen Zugang Bubenbergzentrum wird in Zukunft sein Gesicht ändern. Aber man darf sich freuen: die Lebensqualität von Bern nimmt weiter zu.

Yves Schott

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