Weniger Gehalt, langweiligere Projekte, sexuelle Übergriffe – nicht selten werden Frauen im Berufsalltag belästigt und übergangen. Anne-Louise Swain erklärt, wie sie sich zur Wehr setzen sollen.
Anne-Louise Swain, stehen Frauen im Jahr 2022 beruflich die gleichen Türen offen wie den Männern?
Definitiv nicht. Frauen müssen nach wie vor viel mehr Fachkompetenz mitbringen und mehr Leistung zeigen, um in der Arbeitswelt wahr- und ernst genommen zu werden. Besonders schwierig ist es in männerdominierten Berufen. So erhält eine meiner Kundinnen, eine Maschineningenieurin mit Hochschulabschluss, nach vielen Jahren im gleichen Unternehmen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen weder Zusatzaufgaben noch eine angepasste Lohnerhöhung.
Die Diskriminierungen gehen weiter, wenn Frauen Kinder kriegen. Richtig?
Absolut. Einer Kundin von mir wurde sowohl nach der ersten wie auch nach der zweiten Mutterschaftspause gekündigt. Anderen werden nach einer Mutterschaftspause plötzlich die weniger spannenden Projekte übergeben oder man zwingt ihnen eine ganz neue Stelle auf.
Welche Tipps geben Sie Frauen, die ein Bewerbungsgespräch vor sich haben?
Meine Kundinnen sind fast ausnahmslos davon überzeugt, dass es an ihnen liegt, die Arbeitgeber von ihrer Passgenauigkeit in Bezug auf eine ausgeschriebene Stelle zu überzeugen. Ich versuche, ihnen in meinen Coachings klarzumachen, den Spiess umzudrehen. Das Ziel muss sein, mehr über die Stelle herauszufinden, um für sich selbst eine Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Es geht darum, dem potenziellen Arbeitgeber auf Augenhöhe gegenüberzutreten anstatt in Bittstellung.
Frauen machen sich oft viel kleiner, als sie eigentlich sind?
Ja, häufig kennen sie ihr Potenzial nicht, fühlen sich minderwertig oder haben nie gelernt, sich durchzusetzen. Sie sind darauf getrimmt, Erwartungen zu erfüllen. Entsprechend hartnäckig sehe ich meine Rolle als Coach, meine Kundinnen in diesem Punkt zu sensibilisieren. Stellen sie in einem Bewerbungsinterview kritische Fragen, sind sie auf einem guten Weg. Es ist für beide Seiten, für mich und die betreffenden Frauen, jedes Mal ein Highlight, wenn sie mit dieser Haltung zur Steuerfrau ihrer eigenen beruflichen Zukunft werden.
Wieso verhandeln Frauen denn in solchen Situationen eigentlich schlechter?
Beim Verhandeln geht es darum, andere zu überzeugen sowie selbstsicher und hartnäckig aufzutreten. Diese Eigenschaften werden selbst heute noch als eher männlich wahrgenommen. Ich glaube nicht, dass Frauen per se schlechter verhandeln, sondern dass sie aufgrund ihrer Sozialisation weniger kompetitiv geprägt sind.
Was sollen Frauen also konkret tun, um das gleiche Salär zu erhalten wie ihre männlichen Kollegen?
Es braucht einerseits die Sensibilisierung der Rekrutierenden, also der Vorgesetzten und der Personalverantwortlichen, die Frauen zu unterstützen. Sie sollen zudem ihre persönlichen Rollenbilder reflektieren. In meinen Coachings nehme ich mit meinen Kundinnen eine Potenzialanalyse vor. Sie sollen ihr Potenzial nicht nur erkennen, sondern dieses auch benennen.
Wie sollen Frauen im beruflichen Alltag auftreten? Wer selbstbewusst ist, wird vom Chef nicht selten gleich als arrogant abgestempelt.
Viele Männer haben womöglich Angst vor Konkurrenz. Sie verlieren am ehesten dann ihre Ängste, wenn sie die selbstbewussten Frauen als Entlastung für sich erkennen. Es muss doch anstrengend sein, dauernd die Rolle des dominanten Patriarchen oder des Supermans einnehmen zu müssen.
Um solche Rollenbilder zu ändern, braucht es Zeit.
Und Vorbilder. Aus meiner Sicht ist die Frauenquote, gerade in Kaderpositionen, unumgänglich – vor allem für die jüngeren Generationen von Frauen und Männern, die nachkommen und sich an solchen Vorbildern orientieren. Ich stelle immer wieder fest, dass sich auch junge Frauen trauen, Führungspositionen ins Auge zu fassen. Bei der Kinderfrage fallen viele dann aber wieder in das alte Muster zurück: Kind oder Karriere. Hier muss sich in unseren Köpfen in Bezug auf Rollenbilder in Zukunft einiges ändern, etwa was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Betreuungsstrukturen angeht.
Welche Komplimente eines Vorgesetzten an eine Mitarbeiterin sind eigentlich vertretbar?
Komplimente sollten sich immer auf die Sachebene beziehen und keine Äusserlichkeiten beschreiben. Oft bewegen sich sexuelle Übergriffe im Graubereich – viele meiner Kundinnen sind sich dann nicht sicher, ob es sich wirklich um sexuelle Belästigung handelt. Die Grenze liegt da, wo sich die Betroffenen sexuell belästigt und in ihrer Integrität gestört fühlen.
Sind jüngere Frauen häufiger von solchen Übergriffen betroffen?
Ja. Man nutzt die Unsicherheiten der jungen Frau aus und macht sich seine Stellung, sein Alter oder seine Macht zunutze. Eine junge Lernende traut sich oft kaum, den älteren Mitarbeitenden zur Rede zu stellen. Entsprechende Beschwerden werden zu selten ernst genommen. Eine junge Lernende berichtete mir kürzlich von verbalen Übergriffen an ihrem Arbeitsplatz, die trotz Meldung an den zuständigen Vorgesetzten nicht unterbunden wurden. Es hiess, die Lernende sei zu «mimöselig» und sie müsse sich einfach noch eine dickere Haut zulegen. Die Schuld wird komplett den Frauen zugeschoben – das darf nicht sein. Ich bestärke meine Kundinnen in solchen Fällen, sich zu wehren, die Geschehnisse zu protokollieren und diese zu melden.
Wie können die Unternehmen selbst aktiv werden?
Sie sollen sich präventiv Gedanken zu diesem Thema machen, Merkblätter mit Richtlinien für die Mitarbeitenden verfassen und Workshops zur Sensibilisierung anbieten.
Yves Schott