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Manche schicken Fotos mit Kerzen aus der Kirche

Trotz Social Distancing: Bern steht zusammen. Vor allem die Nachbarschaftshilfe boomt. Hannah, Muriel und Gian kaufen im Kirchenfeld-Quartier für Risikogruppen ein. Die Dankbarkeit ist riesig.

«An unserem Briefkasten hing ein Zettel.» Gian Feller las ihn durch, fand die Idee gut – und wurde so Unterstützer der Gruppe «3005hilft». 38 Mitglieder zählt die Community auf Facebook, Tendenz klar steigend. 3005 ist die Postleitzahl des Kirchenfeld-Quartiers, wo sich, wie in vielen anderen Regionen in und um Bern, Menschen zusammengeschlossen haben, um in Zeiten des Corona-Ausnahmezustandes Seniorinnen und Senioren oder Risikogruppen ganz allgemein unter die Arme zu greifen. Auch Hannah Wilhelm und Muriel Hügli, die wir am Freitag, mit dem nötigen Abstand natürlich, vor dem (geschlossenen) Museum für Kommunikation treffen, machen mit. «Im Gebiet 3006 (Brunnadern, Gryphenhübeli und Schosshalde, d. Red.), wo ich ebenfalls unterwegs bin, führe ich fünf Daueraufträge aus, hier sind es drei», sagt Muriel. Die 30-Jährige schliesst derzeit ihr Sozialpädagogik-Studium ab und wohnt eigentlich im Raum Kocherpark, momentan allerdings bei ihrem Freund im Kirchenfeld. Auch er wurde durch einen Flyer an der Haustür auf die Nachbarschaftshilfe aufmerksam.

«Ab und zu etwas stur»
Auf die gleiche Art und Weise erfährt übrigens die Zielgruppe von den Aktivitäten: Wer nicht online unterwegs ist, kann sich über eine zentrale Handynummer melden. Der entsprechende Wunsch wird dann notiert, in ein digitales System eingetragen – und die Person, die gerade verfügbar ist, kümmert sich schliesslich um das Anliegen. «Ich habe bis jetzt zwei Aufträge erledigt und ging für einen älteren Mann einkaufen», erklärt der 21-jährige Gian. «Als ich ihm die Waren brachte, meinte er, ich solle doch kurz zu ihm reinkommen. Das habe ich aus Sicherheitsgründen aber selbstverständlich nicht getan und ihm die Taschen vor die Tür hingestellt.» Ganz generell würden sich die Leute äusserst erkenntlich zeigen, ergänzt Hannah. «Sie schätzen das.» Die Gymnasiastin, 15 Jahre alt, erzählt von einer Begegnung mit einem ebenfalls schon etwas betagteren Herrn. «Er war oben am Fenster, ich stand unten. Er meinte, er fände das Projekt sehr gut und sei dafür dankbar.» Muriel berichtet sogar von Menschen, die sich via Whatsapp mit Blumenbildern und Herz-Emojis bedanken. «Einmal erhielt ich Fotos mit angezündeten Kerzen aus einer Kirche.» Besonders sympathisch: Viele, die den freiwilligen Helferinnen und Helfern zu ihrer Arbeit gratulieren, haben den Service gar nicht in Anspruch genommen und sagen einfach so Merci. Noch werden Hannah, Muriel und Gian kaum mit Bestellungen überflutet, was wohl damit zu tun hat, dass zahlreiche Rentner ihre Kommissionen nach wie vor ohne fremde Hilfe tätigen möchten. Gian verrät, bei seinen Grosseltern sei es ganz ähnlich gewesen. «Sie wollten zunächst noch selbst in den Supermarkt, nun allerdings haben sie es eingesehen. Ältere Leute sind ab und zu ein wenig stur.» Die Anfragen würden in den kommenden Tagen wahrscheinlich deutlich steigen, ist Muriel überzeugt. Sowieso sollten die Risikopatienten ihrer Meinung nach eine «Vorbildfunktion einnehmen» und wenn möglich zuhause bleiben. «Wir als Jüngere können andererseits dafür sorgen, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet.»

Hoffen auf ein Umdenken
Ob aus dem spontan ins Leben gerufenen Nachbarschaftskonstrukt bereits Freundschaften entstanden sind? Gian verneint zwar, schiebt aber mit einem Augenzwinkern nach: «Ich habe kürzlich für eine alleinerziehende Mutter eingekauft. Sie meinte, wenn ich mal eine Uniarbeit gegenlesen lassen müsse, würde sie mir gerne dabei helfen.» Diese neue Form von Win-win-Situation, sie könnte in Zukunft vielleicht Schule machen, der soziale Umgang miteinander gestärkt werden. So berichtet Muriel von ihrer Mutter, die in Meiringen wohnt und Kärtchen bastelt sowie Güetzi backt für jene, die sich in ihren eigenen vier Wänden einsam fühlen. Ihrer Tochter hat sie ausserdem 300 Franken für Tintenpatronen gesponsert, damit diese ihre Flyer drucken konnte. Hannah erzählt, ihr Bruder sei zwar erst elf, doch auch er würde sofort die eine oder andere Aufgabe übernehmen. «Es wäre schön, wenn sich diese Form von gesellschaftlicher Unterstützung durchsetzen würde. Obwohl es dazu ja eigentlich gar keine Krise gebraucht hätte.» Muriel hofft, dass durch den Notstand in der Gesellschaft ein Umdenken stattfindet. «Möglicherweise nimmt es uns in Zukunft die Zurückhaltung, jemanden um einen Gefallen zu bitten», mutmasst Gian. Hannah denkt, vielleicht werde damit «der Zusammenhalt nachhaltig gestärkt». Trotz allem wünschen sich alle drei ein baldiges Ende dieser bis dato nie erlebten, ausserordentlichen Lage. Muriel sagt, am meisten fehle ihr die Freiheit, spontan in die Stadt gehen und mit ihren Freunden etwas unternehmen zu können. Gian seinerseits wirkt gelassen. «An mir läuft das Ganze etwas vorbei, ich war in den letzten zehn Jahren eh nie krank und habe auch keine Angst vor dem Virus. Nun treffe ich mich mit meinen Kollegen halt zum Spazieren.» Hannah vermisst die YB-Spiele. Sie, die bei unserem Gespräch einen Pullover des Fussballmeisters trägt, besucht regelmässig Partien der Young Boys. «Bis vor Kurzem war immer am Samstag oder Sonntag Match. Jetzt nicht mehr, das ist schade.» Hannah hat ein Sitzplatzticket und befindet sich auf einer Warteliste für Stehplatzbillette. Sie wünscht sich, dass sie nicht mehr allzu lange warten muss. Weder auf einen Stehplatz noch aufs nächste Spiel ihres Lieblingsvereins.

Yves Schott

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