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«Natürlich stehen mir die Tränen manchmal zuvorderst»

Wie ist es, Todkranken täglich in die Augen zu schauen? Monica Fliedner, Co-Leiterin Palliative Care am Inselspital, über einen häufg missverstandenen Job.

Freiburgstrasse 35 in Bern. Mitten im weitverzweigten Gebäude-Wirrwarr des Insel-Areals liegt das SWAN-Haus. Die Abteilung C (Onkologie/ Palliativ-Medizin) bietet Platz für zehn Personen, für die es eigentlich keine Hoffnung mehr gibt. Schwerkranke, meist leiden sie an Krebs. Junge, Alte. Wer hierherkommt, weiss, dass er bald sterben muss. Doch in ihrem Job gehe es um weit mehr als bloss um den Tod, erklärt uns Co-Leiterin Monica Fliedner. Sie sagt es mit warmer, freundlicher Stimme und hörbar schwäbischem Akzent.

Was verstehen Sie unter einem würdigen Abschied?
Den betroffenen Menschen so zu unterstützen, wie er ist. Wir haben neulich eine junge Frau mit einem Hirntumor betreut, die leider nicht mehr gut ansprechbar war. Wir wissen jedoch, was ihr guttut: Musik. Deshalb laufen bei ihr im Zimmer häufig volkstümliche Klänge. Wir wissen ebenfalls, dass sie gerne Tiere mag. Deswegen erhält sie regelmässig Besuch von einem Therapiebegleithund. Neulich ging ihre Hand, die sie sonst kaum bewegte, zum Hund hin. Das ist für mich Würde – den Menschen und nicht die Krankheit sehen.

Das sind die schönen Momente Ihres Berufs. Daneben gibt es wohl einige traurige.
Sicherlich. Man möchte sich ja kaum vorzeitig mit dem Lebensende auseinanderzusetzen. Deswegen begleiten wir die Hinterbliebenen auch in Trauersituationen. Man kann nicht von Betroffenen erwarten, dass sie weiterhin fröhlich durchs Leben ziehen und sagen: «Ich sterbe bald, was solls?» Deshalb versuchen wir, mit diesen Menschen einen Weg zu finden, um mit dieser Tatsache so gut wie möglich zu leben. Natürlich stehen selbst mir dabei die Tränen manchmal zuvorderst.

Im Schnitt zwei Wochen bleiben Erwachsene im SWAN-Haus (Kinder und Jugendliche werden im Kinderspital behandelt). Danach übernimmt die Spitex die Betreuung, der Hausarzt oder ein Pflegeheim. Was im Kanton Bern fehle, betont Monica Fliedner, sei ein Langzeitbereich für Menschen mit komplexen Symptomen, die aber nicht spitalpflichtig sind.

Ist Abschied nehmen bei älteren Leuten einfacher als bei einer jungen Person, die ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte?
(Überlegt) Ein bisschen vielleicht. Wenn ältere Leute von ihren Erlebnissen erzählen, wissen wir: Ja, diese Person hat gelebt. Gleichzeitig bin ich nicht selten sehr überrascht, wie reif 20-Jährige sein können. Wenn sie sagen: Alles, was ich bis jetzt gemacht habe, habe ich genossen. Ich will zwar noch nicht gehen, aber ich muss. Jetzt ist halt jemand anders dran. Davor habe ich grössten Respekt.

Der Tod an sich macht wohl weniger Angst als die Zeit bis dorthin, die oft mit Leiden verbunden ist.
So oder ähnlich hören wir das immer wieder. Die Furcht vor möglichen Symptomen, die mögliche Abhängigkeit, Verlust der Selbstbestimmung oder auch soziale Isolation lähmt meist deutlich mehr. Und das kann ein Grund sein, wieso sie sich bei einer Sterbehilfeorganisation anmelden.

Das ist nachvollziehbar.
Absolut. Wir behaupten auch nicht, Sterbehilfe sei Unsinn; wir versuchen bloss, andere Wege aufzuzeigen. Wir rücken den Menschen und nicht seine Symptome ins Zentrum. Um eine schwerkranke Person zum Lächeln zu bringen, reicht es manchmal schon aus, wenn er oder sie eine halbe Stunde im Garten ist und die Sonne geniessen kann.

Wer sich für Exit oder eine andere Organisation entscheidet, muss diese extern in Anspruch nehmen. Laut Gesetz ist Sterbehilfe im Swan-Haus verboten. Das Team um Monica Fliedner respektiert indes den Wunsch nach Suizidbeihilfe von Betroffenen.

Bestimmte Menschen möchten diese Hilfe hingegen gar nie in Anspruch nehmen und wollen ihr Schicksal selbst bestimmen. Glauben Sie, Leute ab und an zu ihrem Glück zwingen zu müssen?
Nein, wir respektieren jede Entscheidung. Wenn jemand sagt, er sei bereit, Schmerzen zu ertragen, dafür aber so viel wie möglich bei Bewusstsein zu bleiben, ist das so. Wir entgegnen dann: «Gut, und wenn Sie es trotzdem nicht mehr aushalten, bieten wir Ihnen Hilfe an.» Wir schlagen die Türe nicht zu.

Welche Wünsche äussern Betroffene bezüglich der Pflege am häufigsten?
Das hängt teilweise davon ab, aus welchem Kulturkreis sie stammen. Wir probieren, die Bedürfnisse zu hören und möchten herausfinden, was für sie wichtig ist. Wie also können wir die Wünsche von Menschen aus einer Kultur, die wir möglicherweise nur bedingt kennen, erfüllen?

Sie bieten Seelsorgerinnen und Seelsorger an. Wann stehen sie im Einsatz?
Etwa, wenn wir hören, dass jemand mit seinem Schicksal hadert oder dem Ganzen eine spirituelle Bedeutung geben will. Dann bieten wir Psychologen, Psycho-Onkologen oder Seelsorger an –  je nachdem, was der Person entspricht. Bei der Seelsorge denken viele zwar sofort: Ach, jetzt greifen sie zur Bibel. Doch Seelsorge muss nicht zwingend religiös sein. Jedes Individuum ist spirituell. Für einige hat die Natur, sind Tiere eine spirituelle Bedeutung.

Sind Sie denn besonders spirituell?
Jeder Todesfall berührt mich. Für gewisse Schicksale empfinde ich andererseits auch Bewunderung, im Sinne von: So möchte ich das ebenfalls mal meistern können. Besonders spirituell bin ich allerdings wegen meines Jobs nicht.

Mit «SENS» bietet das Inselspital ein Instrument zur Vorausplanung für jene an, die Palliative Care beanspruchen. Das Wort steht für «Symptome» (die Beschwerden an sich und wie sie gelindert werden können), «Entscheidungsfindung» (möchte man im Zweifelsfall zum Beispiel reanimiert werden?), «Netzwerk» (Wer kümmert sich um einen?), «Support» (Welche Unterstützung brauchen die Angehörigen?).

Wieso haben Sie sich eigentlich für diesen Beruf entschieden?
Ich habe lange auf der Onkologie gearbeitet. Ein Arzt meinte einmal zu mir: Die Pflege ist für das Befinden zuständig, die Ärzte für die Befunde. Diese Antwort reichte mir jedoch nicht aus. Die Palliative Care setzt sich mit dem Menschen mit der Krankheit auseinander – und alle Berufsgruppen, die notwendig sind, um dem Menschen zu helfen, arbeiten zusammen – das hat mich interessiert. Mit wem haben wir es überhaupt zu tun, wer sind die Angehörigen?

Wie schalten Sie ab? Haben Sie da einen Modus entwickelt?
Einen Modus nicht, aber ich rede mit meinem Team. In schlimmen Fällen, wenn beispielsweise eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern diese Welt verlassen muss. Manchmal nehme ich die Gedanken mit nach Hause, das kann passieren.

Hadern Sie in solchen Situationen mit dem Schicksal?
Absolut. Wir hatten neulich den Fall einer 30-jährigen, frisch verheirateten Frau, die einen Tumor hatte. Ihr grösster Wunsch war es, nochmals nach Hause gehen zu dürfen. Sofort wurde alles organisiert. Drei Tage später starb sie dann. Ja, das macht einen müde. Eine junge Frau, sichtbar verliebt, glücklich, mitten im Leben – und sie muss jetzt gehen? Was passiert mit ihrem Mann? Das ist unfair und beschäftigt mich.

Sie arbeiten seit neun Jahren als Co-Leiterin der Palliative Care in der Insel. Hat sich – nebst dem medizinischen Fortschritt – in der Art der Behandlung etwas verändert?
Ärzte gelangen kaum mehr nur mit der Diagnoseliste eines Patienten zu uns. Heute stellen sie viel häufiger den Menschen ins Zentrum. Das war vor zehn Jahren, als wir hier gestartet haben, anders. Deshalb möchten wir auch die Bevölkerung für dieses Thema sensibilisieren und dazu aufrufen, sich mit dem Tod zu befassen. Selbst wenn jemand nicht schwerkrank ist. Man soll darüber reden und nachdenken dürfen. Unbedingt.

Yves Schott

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