Bern und Berlin: Längst nicht nur der Bär als Wappentier vereint die beiden Hauptstadtregionen. Was können wir von unseren deutschen Freunden lernen? Wie wichtig sind sie für uns? Und wie sieht die künftige Zusammenarbeit aus?
Alec von Graffenried, Berner Stadtpräsident und Christoph Neuhaus, Regierungsratspräsident des Kantons Bern, standen dem Bärnerbär auf dem Dach der Schweizer Botschaft genauso Red und Antwort wie Michael Müller, Bürgermeister des Landes Berlin und Präsident des Deutschen Bundesrates (kleine Parlamentskammer). Eine exklusive Bä- renrunde an exklusiver Lage.
Michael Müller, vielen Dank, dass Sie sich für den Bärnerbär Zeit nehmen. Starten wir mit ein paar Fragen zu Bern: Was ist ein Mutz?
Diesen Begriff habe ich noch nie gehört. (lacht)
Für uns Berner ist das ein Bär. Auch bezeichnen wir so ein bestimmtes Trachtenoberteil und die Spieler des SC Bern. Das Logo des Eishockeyclubs besteht aus einem Bär, der einen Eishockeystock als Zunge hat.
Nicht schlecht. Auch ich verfüge über Bärenwissen: Haben Sie gewusst, dass der Berliner Bär während der Besetzung keine Krallen und Zähne hatte? Er durfte nicht angriffslustig wirken.
Nein, das wusste ich nicht. Da haben die Siegermächte aber stark übertrieben. Wissen Sie, wer die Young Boys sind?
Ja, aber erst seitdem ich mich auf den heutigen Anlass «Bern besucht Berlin» vorbereit habe. Ich gratuliere zum Meistertitel!
Christoph Neuhaus, wie lange wartet Hertha Berlin auf den Gewinn der Deutschen Fussballmeisterschaft?
Hoffentlich nicht so lange, wie es YB musste. Ich denke, dass die Hertha budgetmässig nicht mit den Aushängeschildern der Bundesliga mithalten
«Sogar die Wissenschaftsszene aus Oxford sucht mittlerweile Anschluss in Berlin »
kann. Das macht die Sache natürlich nicht leichter …
Die Hertha wartet seit 1931, also seit 86 Jahren, auf einen Titel. Herr Müller, für welche Berliner Sportclubs schlägt ihr Herz am meisten?
Für alle. Das sage ich nicht einfach so, denn viele Sportarten sind interessant und ich bin stolz darauf, dass wir in sechs Sportarten über Profiteams verfügen.
Alec von Graffenried, welchen persönlichen Bezug haben Sie zu Deutschland und insbesondere zu Berlin?
Ich hielt mich in den Neunzigerjahren während meines Nachdiplomstudiums im Fachbereich Mediation/Konfliktregelung länger in Heidelberg und Frankfurt auf. Die Zeit habe ich in sehr guter Erinnerung – Berlin allerdings besuchte ich bisher nur in verschiedenen Kurztrips. Hier habe ich Nachholbedarf, denn die Stadt interessiert mich sehr.
Hatten Sie bereits mehr Kontakt mit Berlin, Christoph Neuhaus?
Ich besuchte Berlin vor und nach der Wende und bin von der Wandlung der Stadt beeindruckt. Vor drei Jahren waren wir mit der Kantonalregierung hier und erhielten von unseren Gastgebern einen vertieften Einblick. Die Berliner sind ähnlich wie wir Berner: bodenständig und entspannt. Zudem verfügt Berlin über viele Grünflächen und auch deshalb über eine hohe Lebensqualität. Ich fühlte und fühle mich hier stets sehr wohl. Natürlich auch auf dem Dach der Schweizer Botschaft.
Was wissen Sie sonst über Bern, Herr Müller? Waren Sie schon da?
Ich war als 12-jähriger Knabe zusammen mit meinen Eltern in Bern. Ich erinnere mich gut daran, dass ich mich sehr wohl gefühlt habe. Ich musste mich nicht eingewöhnen. Irgendwie stimmte es für mich auf Anhieb. Beruflich war ich einmal in Zürich. Das waren meine bisher einzigen Reisen in die Schweiz.
Bern verfügt über 73 000 Arbeitsplätze in der Industrie, das sind 3000 mehr als in Zürich. Wissen die Bernerinnen und Berner, dass sie im wichtigsten Industriekanton leben?
Christoph Neuhaus: Zehn Prozent werden es hoffentlich schon sein. Unsere Berner Bescheidenheit in Ehre: Wir sind insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht oft zu wenig stolz, hätten aber Grund dazu und könnten so diejenigen aufklären, die von der Industriestärke Berns tatsächlich keine Kenntnis haben. Hier würde eine kantonalinterne Kampagne weiterhelfen. Alec von Graffenried: Wir exportierten 2017 Güter im Wert von fast vier Milliarden Franken nach Deutschland. Das lässt sich sehen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass sich Zürich seit Jahren stetig deindustrialisiert. Wir sind auch deshalb der neue Industriekrösus der Schweiz.
Bleiben wir bei den Exporten. Über acht Prozent der nach Deutschland verkauften Schweizer Güter stammen aus dem Kanton Bern. Das kann kein Zufall sein, oder?
Alec von Graffenried: Die Clusterstrategie unseres Wirtschaftsraums geht auf. Viele ausländische Unternehmen überlegen sich bei Ansiedlungen immer auch, welche Firmen aus derselben Branche bereits vor Ort sind. Wer ist als Zulieferant, als Kunde oder gar als Partner interessant? Diese Fragen sind wichtig. Zudem wohnen immer auch viele Fachkräfte in der Nähe von Clustern. Denken Sie beispielsweise an die Uhrenindustrie in und um Biel und im Jurabogen. Aber auch an die Medizinaltechnik und Medizin in und um Bern. Da sind starke Netzwerke entstanden, in denen sich die Firmen gegenseitig befruchten. Christoph Neuhaus: In Deutschland schätzt man Qualität. Und die liefern Berner Firmen seit Jahren. Das sorgte und sorgt für stabile Beziehungen, die dann auch bei Kursschwankungen nicht einfach so schnell in die Brüche gehen.
Herr Müller, ist Berlin im Industriebereich genügend stark? Hat Berlin andere Trümpfe in der Hand?
Die Stadt hatte wegen der Teilung enorm viel Industrie verloren. Und nach der Wiedervereinigung fehlten zunächst die Mittel. Das führte zu einem weiteren Verlust an Industriefirmen. Seit ein paar Jahren hat sich das Bild geändert: Die Industrie in Berlin wächst kontinuierlich und in einem sehr erfreulichen Tempo. Gute Beispiele sind die Pharmaindustrie und der Medizinalbereich. Hier sind wir mittlerweile sehr stark. Ebenfalls präsent sind BMW und Mercedes. Wichtige Standbeine haben wir weiterhin im dritten Sektor: der Tourismus, die Kultur und Dienstleistungen aller Art. Zudem sind wir die politische Drehscheibe Deutschlands und so auch wichtig für die EU.
Berliner Entwicklung hin oder her: Wie unmittelbar leidet die Berner Wirtschaft, sobald der deutsche Wirtschaftsmotor stottert?
Christoph Neuhaus: Hat die Wirtschaft Deutschlands die Grippe, haben wir sofort mindestens den Husten. Das ist die Realität der globalen Wirtschaft. Jedes Land fokussiert sich auf diejenigen Güter, die es mit dem kleinsten absoluten Kostennachteil produzieren kann. Dies sorgt für Abhängigkeiten. Wir Schweizer leben nicht in einer uneinnehmbaren Insel der Glückseligen. Das führte uns die Finanzkrise deutlich vor Augen. Die wirtschaftliche Musik wird andernorts gemacht. Wir sind zwar gut, aber auch klein. Deshalb ist unser Einfluss auf den Verlauf der europäischen Wirtschaft im Vergleich zu den grossen Ballungsräumen bescheiden.
Was können wir Berner und Schweizer von den Berlinern lernen, Herr Müller?
Ratschläge zu geben ist immer schwierig. Ich weiss aber aus eigener Erfahrung, was uns in Berlin gutgetan hat: offen zu sein und international zu denken. Wir haben Firmen, Arbeitskräfte und Studenten stets mit offenen Armen empfangen. Davon profitieren wir jetzt enorm. Wir haben 190 000 Studierende in Berlin. Das sind für uns wichtige Botschafter. Denn sie arbeiten danach in der ganzen Welt und erzählen anderen, wie sie in Berlin gefördert wurden. Deshalb sage ich: Internationalität und Offenheit ist längst ein harter Standortfaktor! Durch den Brexit sucht mittlerweile sogar die Wissenschaftsszene aus Oxford Anschluss in Berlin. Unsere Verbindungen nach Osten helfen uns auch noch immer.
Die Standortförderung Bern macht im Ausland gemeinsam mit den Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg und Wallis unter dem Namen «Greater Geneva Berne Area – Invest Western Switzerland» Werbung. Macht dieser Zusammenschluss Sinn?
Alec von Graffenried: Unbedingt, gemeinsam sind wir stärker. Wir profitieren von den anderen Kantonen genauso wie sie von uns. In seiner Gesamtheit ist das Dossier der «Greater Geneva Berne Area» beeindruckend und kommt bei ausländischen Investoren und Firmen gut an. Christoph Neuhaus: Trotz dem Zusammenschluss sind wir für viele Interessenten ein sehr kleiner Raum. Von Genf bis Bern beträgt die Luftlinie gerade Mal 130 Kilometer. Für Ausländer eine Pendelstrecke. Meine Frau ist Amerikanerin und staunt oft, wenn sich Freunde und Bekannte über scheinbar «lange» Wege nerven. Wichtig finde ich auch aus sprachlicher Hinsicht, dass wir mit der Romandie auftreten: Auch Bern hat seine francophone Seite und Geschichte.
Bern ist als Hauptstadt, als Tourismusdestination und als Wirtschaftsstandort in Berlin gemäss dem Kompetenzzentrum Swiss German Club zu wenig präsent. Das politische Berlin wird laut den Wirtschaftskennern als Lobby-Partner in den Verhandlungen mit der EU zu wenig aktiviert und genutzt. Wie sehen Sie das?
Alec von Graffenried: Wir Berner sind als Hauptstädter ein wichtiges Puzzleteil und müssen unsere Verantwortung wahrnehmen. Städtenetzwerke werden zunehmend wichtig. Für Bern stehen international die Beziehungen zu den Hauptstädten der Nachbarländer im Vordergrund. Da gebe ich den Experten Recht. Mit Berlin ist unser Austausch bereits ausgezeichnet. Mein Vorgänger Alexander Tschäppät war mit Klaus Wowereit freundschaftlich verbunden. Diese gute Ausgangslage will ich nutzen und die Beziehungen vertiefen. Mir schwebt ein Dreiernetzwerk mit Michael Müller und dem neuen Bürgermeister von Wien, Michael Ludwig, vor. Schade wechselt die Schweizerische Botschafterin Christine Schraner Burgener von Berlin als UN-Botschafterin für Myanmar nach Südostasien. Sie hat viel zu den guten Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz beigetragen.
Herr Müller, was halten Sie vom Vorschlag des Berner Stadtpräsidenten?
Ich finde die Idee von Alec von Graffenried ausgezeichnet. Gerne würde ich zu dritt mit ihm und Michael Ludwig am Karren ziehen. Denn auch politisch ist der internationale Austausch unerlässlich. Jede Vernetzung hilft uns, denn wir haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Ich denke beispielsweise an den Verkehr, die Bildung und das Gesundheitssystem.
Haben Sie gewusst, dass fast 30 000 Deutsche im Kanton Bern leben?
Ich habe gewusst, dass viele Deutsche im Kanton Bern leben. Dass es so viele sind, war mir nicht bewusst. Sie schätzen die wirtschaftliche und soziale Stabilität der Schweiz und auch die Landschaft. Ich verstehe sie.
Was wären die Stadt und der Kanton Bern ohne die Deutschen?
Christoph Neuhaus: Wir wären deutlich ärmer. Wirtschaftlich, kulturell und auch in menschlicher Hinsicht. Der Kanton Bern ist ohne die Zuzüger aus Deutschland nicht mehr denkbar.
Nun wird es kulinarisch: Welche Berliner Spezialität empfehlen Sie uns, Herr Müller? Eine Currywurst?
Wenn ich an das wunderbare Essen in und aus der Schweiz denke, ist diese Frage schon fast gemein. (lacht) Unseren Gästen empfehle ich, dass sie insbesondere in Kreuzberg oder Neu-Kölln junge Restaurants besuchen, die traditionelle und moderne Schlemmereien aus verschiedensten Ländern frech kombinieren.
Was bevorzugen Sie, Herr Neuhaus? Currywurst, Saucisson oder eine YBWurst?
Alle, ich bin ein Wurstfan. Das sollte so aber eigentlich nicht abgedruckt werden, sonst werde ich künftig noch mehr mit Würsten beschenkt. Ich werde mir hier in Berlin ganz sicher noch eine Currywurst gönnen. Das muss einfach sein.
Übermorgen beginnt die Fussball-WM. Hand aufs Herz: Drücken Sie den Deutschen die Daumen?
Alec von Graffenried: Die deutsche Bundesliga ist in der Schweiz unheimlich populär, meine Söhne halten mich da samstags auf dem Laufenden. Entsprechend geniesst auch die DFB-Elf hohe Sympathiewerte. Gerne drücke ich da die Daumen, ausser in Spielen gegen die Schweiz.
Zum Schluss eine böse Frage an Herrn Müller: Wann werden Sie erstmals vom Flughafen Berlin-Brandenburg in die Schweiz fliegen? Sorry, geht Ihnen diese Frage auf den Keks?
Keine Sorge, dieser Punkt ist längst überschritten. (lacht) Wir haben gelernt, geduldig zu sein. Der Chef des Flughafens hat die Eröffnung für 2020 angekündigt. Wir freuen uns auf den neuen Flughafen, denn er ist überfällig und wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung.
Dominik Rothenbühler