Es ist das Schlimmste, das Eltern passieren kann. Wenn das eigene Kind stirbt, bricht für Familien und Angehörige eine Welt zusammen. Vom schwierigen Versuch, das Unfassbare fassbar zu machen.

Simone Keller stellt sich Fragen. Über den Sinn und die Gerechtigkeit des Lebens etwa. Nicht nur dann, wenn gerade ein Kind gestorben ist. Sondern generell. Wie hat es ein junger Mensch verdient, mit einer schweren Krankheit zur Welt zu kommen? Wie soll sie einen Unfall deuten, bei dem ein Mädchen viel Blut verliert? Fügung? Höhere Gewalt? Reiner Zufall? Die 48-Jährige arbeitet als Pflegefachfrau in den Kinderkliniken des Inselspitals in der Abteilung pädiatrische Intensivbehandlung. «Ich erlebe Situationen, wo man das Kind vor lauter Schläuchen kaum mehr sieht», sagt Keller. Und erklärt, wieso der Tod auch eine Erlösung sein kann. Der Bärnerbär wagt sich in dieser Ausgabe an ein Thema heran, das sonst häufig tabuisiert wird.

Die traurige Arbeit von Simone Keller und ihrem Team

Wenn Simone Keller zur Arbeit kommt, fährt sie im Gebäude, wo die Kinderkliniken untergebracht sind, mit dem Lift in Stock B. Abteilung pädiatrische Intensivbehandlung. Hier gibt es zwölf Betten für Kinder, deren Leben an einem seidenen Faden hängt. Weil sie an einer schweren Krankheit leiden, eine aufwändige Operation hinter sich haben oder nach einem Unfall in kritischem Zustand eingeliefert wurden.

In Stock B stirbt jede zweite Woche ein Kind

Das Ziel und auch die Hoffnung der behandelnden Ärzte sowie des gesamten Intensivbehandlungsteams (rund 75 Pflegefachpersonen und 15 Ärzte) sowie Therapeuten, Seelsorgern, Psychologen und Sozialberatern besteht darin, dass die kleinen Patientinnen und Patienten wieder gesund werden. Nicht alle schaffen es: Zwischen 25 und 30 Kinder und Jugendliche sterben pro Jahr auf der Abteilung; im Schnitt also alle zwei Wochen ein Todesopfer.

Schwieriger Weltenwechsel
Keller übt ihren Beruf als Intensivpflegefachfrau in dieser Funktion seit 18 Jahren aus. Sie mag ihn, aller emotionaler Belastung zum Trotz. Er sei eine gute Mischung aus Herz- und Kopfarbeit. «Wir erleben schöne und schwierige Situationen, gehen als Team durch dick und dünn. Jeder Tag bedeutet eine neue Herausforderung.»

Glückliche und traurige Momente wechseln sich in Kellers Job ab. Die viel zitierte Achterbahn der Gefühle: Hier findet sie wirklich statt. Jeden Tag. «Betrübte Momente erleben wir nicht nur bei Todesfällen. Muss ein Kind auf die Intensivstation, ist das für die betroffene Familie immer eine sehr belastende Situation.» Die meisten jungen Patienten verlassen die Abteilung in einem besseren Gesundheitszustand als zuvor und können damit auf eine andere Station verlegt werden.

Simone Keller
Persönlich: Simone Keller, Jahrgang 1970, wuchs in der Region Zürichsee auf. Seit 22 Jahren arbeitet sie im Inselspital, seit 18 Jahren auf der pädiatrischen Intensivstation. Zudem arbeitete sie drei Jahre lang im Kinderspital Kantha Bopha in Kambodscha. Keller wohnt in Köniz.

Das Inselspital kennen in Bern alle. Mit seinem markanten Hauptgebäude sticht es in den Himmel, hell leuchtet der grüne Schriftzug in der Nacht. Welche Dramen und Schicksalsschläge sich hier regelmässig abspielen, erahnen nur die wenigsten. Bewusst oder unbewusst. «Manchmal schauen wir uns gegenseitig an und sagen: ‹Mein Gott, die Welt weiss ja kaum, was hinter diesen Mauern passiert.› Doch es ist richtig, dass diese Mauern existieren.» Keller wählt ihre Worte bewusst aus, erzählt ruhig und klar. Ihre Miene ist ernst, gleichzeitig strahlt sie Optimismus aus.

«Es wird einem bewusst, wie schnell sich das Leben ändern kann. Man wird dankbarer und demütiger.» Die Gefahr, mit der Zeit abzuhärten und tragischen Vorfällen weniger Bedeutung zu schenken, besteht laut der 48-Jährigen nicht. Im Gegenteil. «Ich behaupte, man wird sogar je länger, je empathischer. So nehme ich auch meine Kolleginnen und Kollegen wahr. Der Erfahrungsrucksack wird zwar immer grösser, die Schultern breiter. Auf diesen Schultern hat dann aber auch mehr Platz.»

Und so begleiten Simone Keller an einem intensiven Tag, wenn sie etwa eine Sterbebegleitung hinter sich hat, auf dem Weg nach draussen viele Gedanken. Sie kann dann meistens nicht einfach in die Stadt shoppen gehen. «Dieser Weltenwechsel gestaltet sich häufig schwierig. Vielleicht laufe ich dann heim statt zu fahren. Oder ich jogge eine Runde, um über das Erlebte nachzudenken.» Runterfahren, abschalten. Es zumindest versuchen. «Mir tut es selten gut, einfach sofort abzuklemmen.»

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Isabella Skuljah arbeitet um Inselspital als Seelsorgerin. Im Sternenraum, wo sie sitzt, werden Kinder nach ihrem Tod aufgebahrt.

Kinder, die viel zu früh sterben müssen. Weil sie Krebs haben, einen Gendefekt, mit einer schweren Behinderung zur Welt kamen oder im Strassenverkehr folgenschwere Verletzungen erlitten, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Ist das Leben ungerecht? Keller denkt kurz nach. «Ja, das denke ich ab und zu. Gerade dann, wenn man erfährt, dass eine Familie bereits zum zweiten Mal einen Schicksalsschlag verkraften muss. Dann frage ich mich schon: Was soll das?»

Die Grenze des Zumutbaren
Als gläubig im streng religiösen Sinn würde sich Keller nicht bezeichnen. Doch sicher existiert da eine höhere Macht. «Ich erlebe Situationen, wo man das Kind vor lauter Schläuchen kaum mehr sieht. Wo ich mich frage, ob es leidet und ob das alles noch gut ist. Wenn dann der Moment kommt und das Kind gehen kann, glaube ich, dass da etwas anderes ist, das entscheidet, wenn selbst Hightech-Medizin an ihre Grenzen stösst.»

Natürlich, die moderne Medizin kann viel. Sehr viel. Und doch stellt sie Ärzte, Pflegende, Betreuer und die Angehörigen vor neue Herausforderungen. Keller beschäftigen in diesem Zusammenhang viele Gedanken. «Für eine Familie ist es das Allerschlimmste, wenn ihr Kind stirbt. Doch manchmal kann Loslassen gut sein.» Doch wer entscheidet über Leben und Tod? Wer definiert Werte und Moral? Wo liegen die Grenzen des Zumutbaren?

«Häufig ist es eine Gratwanderung», gibt Keller offen zu. «Im Zentrum muss immer der Patient
stehen. Gemeinsam versuchen wir mit allen Beteiligten, den besten Weg zu finden. Doch wahrscheinlich geht man das eine oder andere Mal zu weit.»

Ethik kennt kein Richtig oder Falsch. Und Emotionen lassen sich nicht kontrollieren. Für Keller sind Tränen ein Ventil, um der Trauer Raum zu schaffen. «Ich kenne kaum jemanden hier, der noch nie geweint hat. Das wäre ja irgendwie auch komisch. Würden mich gewisse Erlebnisse nicht sichtbar berühren, hätte ich schon längst gekündigt.»

Immer mehr chronisch Kranke
Ob sie eine besonders empfindsame Persönlichkeit hat? Gut möglich. Jedenfalls bezeichnet sich Keller als «eher sensiblen Menschen». Doch die meisten auf dieser Etage würden ähnlich ticken. «Die einen weinen halt schneller als andere, berührt sind aber alle.»

So sehr Simone Keller an ihrem Beruf hängt, so fest setzt sie sich für eine Verbesserung gewisser Bereiche ihrer Tätigkeit ein. In der pädiatrischen Palliativversorgung, die die Lebensqualität von unheilbar kranken Kindern verbessern soll, bestehe grosser Nachholbedarf, ist sie überzeugt. Und das gelte für viele Regionen der Schweiz. «Man spricht häufig über die Überalterung der Gesellschaft. Die moderne Medizin verlängert Leben – das stimmt, gilt allerdings auch für Kinder. Solche, die in früheren Jahren gestorben wären, überleben heute.»

Was bedeutet: Es gibt viel mehr chronisch Kranke, die zuhause intensiv betreut werden müssen. Einen Teil dieser Pflege übernimmt etwa die Spitex. Keller wünscht sich indes speziell ausgebildete Teams, die sich in Zukunft um auch bei Kindern um solche Aufgaben kümmern. Im Team ist ist dabei, im Inselspital eine solche Gruppe aufzubauen. «Wir werden von der Klinikleitung unterstützt. Die Umsetzung gestaltet sich aber nicht ganz einfach in Zeiten, in denen im Gesundheitswesen überall gespart werden muss.»

Seltener Luxus
Keller möchte Kapazitäten ausbauen, Strukturen verbessern, um den Jüngsten, den Schwächsten zu helfen – und gleichzeitig die Eltern und Familien zu entlasten. «Sie haben ebenfalls das Recht, einen Tag mit ihren gesunden Kindern verbringen zu können, im Wissen darum, dass das kranke Kind professionell versorgt wird. Aus diesem Grund ist in Bern das Kinderhospiz Allani in Planung, mit dem Fokus, Familien zu unterstützen.»

Genug Ressourcen für eine umfassende Betreuung zur Verfügung haben – das bedeutet heutzutage nicht selten Luxus. Kommt aber schlussendlich allen zugute. Dem Patienten, den Familien, den Betreuern. «Ein guter Tag für mich ist», sagt Keller zum Schluss, «wenn ich mir für jemanden genug Zeit nehmen kann, wenn man gut zusammenarbeitet und ich nicht allem nur hinterherrennen muss. Und wenn ich lachen kann.»
Yves Schott

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