Was meint Benedikt Weibel mit degressiven Autotarifen? Und was haben selbstfahrende Autos mit Golf zu tun? Der ehemalige SBB-Chef hat klare Visionen davon, was uns der Verkehr der Zukunft bringt.
Als ehemaliger SBB-Direktor sind Sie wohl fast ausschliesslich mit dem Zug unterwegs?
Nein, ich bewege mich sehr hybrid: Ich laufe jeden Tag 10000 Schritte, bin eingefleischter Velofahrer – in der Stadt nehme ich das E-Bike –, dazu habe ich schon immer ein Auto besessen. Und, ja, klar nutze ich das ÖV-Angebot. Ich versuche, die ganze Palette an Verkehrsmitteln sinnvoll einzusetzen.
Wie hat sich der Verkehr seit Ihrem Rücktritt bei der SBB 2006 verändert?
Bis zu Beginn der Pandemie erhielt die Bahn aufgrund der Klimakrise einen völlig neuen Stellenwert. Das erstaunt, gehörte sie nach dem Zweiten Weltkrieg doch zu einer aussterbenden Spezies. Städte wurden für Autos umgebaut. Nun brach die Mobilität durch den Lockdown im Frühling 2020 komplett ein. Das gab es zuvor noch nie.
Das Auto erlebte durch Corona ein Revival, im Zug fürchteten sich viele vor Ansteckungen.
Natürlich. Auch sonst bietet ein Auto zahlreiche Vorteile: Man kann jederzeit abfahren, hat seine Ruhe, kann alles mitnehmen – ein mobiler Schrank quasi. Im Zug fiel mir übrigens kürzlich auf, dass vor allem die erste Klasse weniger gut belegt ist als vor der Pandemie. Wahrscheinlich, weil gerade Seniorinnen und Senioren wieder vermehrt das Auto zur Garage rausholen. Schätzungsweise liegt die Zugbelegung im Vergleich zu vorher bei etwa 60 Prozent.
Sie sagten in einem Interview mit der «NZZ», das Homeoffice könne für die Bahn eine Chance sein.
Strasse und Schiene sind im Schnitt schlecht ausgelastet: Bei der SBB beträgt die Auslastung über die gesamte Betriebsdauer hinweg gesehen unter 30 Prozent – dafür sind die Züge zu den Spitzenzeiten brechend voll. Nun dürfen wir ja nicht in diese Spitzen investieren: Das ist unglaublich teuer, ausserdem werden bestehende Engpässe häufig schlicht geografisch verpflanzt. Es müssen ja nicht alle am gleichen Tag im Homeoffice sein.
Auch Autobahnen sind nur zur Rush Hour verstopft, in der Nacht fährt kaum jemand.
Fünfzig Prozent der Autofahrten sind maximal zehn Kilometer lang – das ist exakt die Reichweite, die ein E-Bike hat. Ich plädiere deshalb dafür, erstens jedes Verkehrsmittel dort einzusetzen, wo es am meisten Sinn macht. Das ist beim Auto auf diese Distanz praktisch nie der Fall. Zweitens muss die Infrastruktur effizienter genutzt werden, damit der Verkehr besser fliessen kann.
Das Auto hat wegen des CO2-Ausstosses zudem einen schlechten Ruf. Darf man überhaupt noch autofahren?
Absolut. Eines ist allerdings völlig klar: Der Verbrennungsmotor hat ein Verfalldatum. Denn die Schweiz hat sich verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu sein. Und wir reduzierten den Treibhausgasausstoss bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 14 Prozent. Nur: Der einzige Sektor, der mehr ausgestossen hat als zuvor, ist der Verkehr. Der Luftverkehr hat sogar um 75 Prozent zugenommen. In der Schweiz macht die Mobilität 32 Prozent des Treibhausgasausstosses aus. Sprich: Der Verkehr muss dekarbonisiert werden. Für den PW steht der Batterieantrieb im Vordergrund. Für schwere LKW und Flugzeuge sind auf Wasserstoff basierende Varianten in Entwicklung.
Nach wie vor ist die Herstellung von E-Autos jedoch nicht sehr umweltfreundlich. Das zeigen Berichte aus der chilenischen Atacama-Wüste, wo so viel Wasser abgepumpt wird, dass sich die Oberfläche absenkt.
Die technologische Entwicklung ist rasant. Die Hoffnung liegt im Batterierecycling. Wir müssen Elon Musk dankbar sein, dass er den Tesla so forciert hat. Nur deswegen ist die Automobilindustrie so weit. Wir erleben hier die eindrückliche Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft. Gerade im Bereich der Mikromobilität tut sich enorm viel: E-Bikes halte ich für eine der wichtigsten verkehrspolitischen Innovationen der letzten Jahre. Früher wäre ich doch nie mit dem Velo zur Arbeit. Schon nur der Brunnadern entlang hätte ich in meiner Schale geschwitzt (lacht).
Was halten Sie von Mobility Pricing?
Monetäre Anreize sind unabdingbar – selbst das GA ist ein solcher. Bei der Euro08 war die ÖV-Anreise im Ticket inbegriffen. Nur den Begriff Mobility Pricing finde ich suboptimal – das klingt irgendwie nach Stausteuer. Abgesehen davon: Schon bald werden Autos rollende Computer sein. Wieso führen wir nicht degressive Tarife ein? Die ersten Kilometer kosten mehr als die anderen. Damit brächten wir endlich die unnötigen Kurzstreckenfahrten weg.
Wir benutzen Verkehrsmittel zu leichtfertig?
Natürlich. Wir sind eine bequeme Gesellschaft – schon bald werden uns Apps unseren ökologischen Fussabdruck aufzeigen und Ressourcen kontingentiert sein.
Ist ein teureres Flugticket ein monetärer Anreiz – oder nicht doch eher eine Strafe für Leute mit tieferen Einkommen?
Wenn die extrem tiefen Flugpreise etwas steigen, ist das kein Problem. Aber Sozialverträglichkeit ist eine Randbedingung. Ich könnte mir vorstellen, dass jene, die aufgrund ihres Wohnortes auf ein Auto angewiesen sind, steuerlich entlastet werden.
In Finnland oder Singapur existieren Gratis-ÖV-Angebote. Solche Ideen werden bei uns ebenfalls immer mal wieder diskutiert.
In Singapur ist die Metro nach 19 Uhr gratis. Das kann Sinn machen. Wie seinerzeit das günstige Abonnement Gleis 7 für Jugendliche, das ebenfalls nach 19 Uhr gültig war. Den ÖV generell gratis anzubieten, halte ich für falsch. Was nichts kostet, ist nichts wert. Den aktuellen Weg der ÖV-Anbieter halte ich für einiges intelligenter: nämlich spezifische Tickets für schlecht ausgelastete Verbindungen anzubieten.
Ein GA für die zweite Klasse kostet jährlich 3860 Franken. Ist das zu teuer oder zu billig?
Weder noch, ich halte den Preis für angemessen. Das GA ist zusammen mit dem Halbtax-Abo, das 1987 für damals 100 Franken eingeführt wurde, der Hauptgrund dafür, dass die Schweiz eine Bahnfahrer-Nation wurde. Das erste Flatrate-Angebot des Landes quasi – seit 1898 auf dem Markt, vier Jahre bevor es die SBB gab.
Dass Schweizerinnen und Schweizer so fleissig pendeln, hat auch mit der Pünktlichkeit der Züge zu tun.
Selbstverständlich. In Italien erwartet niemand einen auf die Minute abfahrenden Zug. Ein anderer Grund liegt im Verhältnis der Anzahl Kilometer Bahn und Strasse: In der Schweiz existieren 5600 Kilometer Schiene und rund 70000 Kilometer Strasse. In Deutschland sind es 33000 Kilometer Schiene und 800000 Kilometer Strasse. Wir verfügen also über ein wesentlich dichteres Schienennetz. Und: Seit Einführung der Bahn 2000 gelangt man meist stündlich von A nach B, häufig gar alle dreissig Minuten. Das ist allerdings nur wegen unserer Kleinräumigkeit möglich.
Wie funktionieren wir, wie funktioniert der Verkehr in zwanzig Jahren?
Ich zitiere am besten den Schlussabschnitt aus meinem Buch: «Die interkontinentalen Verkehrsströme haben an Gewicht verloren, die Verkehrsspitzen sind weniger ausgeprägt, die Verkehrsinfrastrukturen gleichmässiger ausgelastet. In den Städten haben sich Cluster von Bewegungen in den Quartieren gebildet, die Wege sind kürzer geworden und werden zum überwiegenden Teil zu Fuss und mit Mikromobilitätsverkehrsmitteln zurückgelegt. Mobilitätsentscheidungen werden unter Berücksichtigung des ökologischen Fussabdrucks getroffen und es hat sich eine Verkehrskultur entwickelt, die von Gelassenheit und gegenseitigem Respekt geprägt ist.»
Tönt gar nicht so revolutionär. Keine selbstfahrenden Autos?
Ich glaube kaum, dass sie sich in grossem Stil durchsetzen. Wer will schon seine Golfutensilien jedes Wochenende wieder umtischen?
Sie waren unter anderem Delegierter der Fussball-EM 2008. Noch heute schwärmen manche von den friedlichen, feiernden Holländer.
Solche Bilder wird es, zumindest aus Bern, nie mehr geben.
Tatsächlich?
Schweizer Städte sind dafür deutlich zu klein. Denken Sie an die Massenpanik an der Loveparade in Duisburg 2010 – Wien mit seinen Ringen bietet da massiv mehr Platz. Die Schweiz war halt nie ein Kaiserreich, entsprechend enger wurden die Städte gebaut. Mir sagte ein Polizist 2008 in Bern: «Diese Holländer – toll! Aber Eingriffsmöglichkeiten? Gleich null.» 150 000 Menschen zwischen Zytglogge und Bahnhof? Heute unvorstellbar.
Wie traurig.
Betrachten wir es positiv: Wir haben es zumindest mal erlebt.
Yves Schott