Vor bald zwei Jahren gingen Schweizer Frauen zu Tausenden auf die Strasse. Barbara Ruf, Gleichstellungsbeauftragte des Kantons Bern, erklärt, was sich seither getan hat und wann sie selbst in die Genderfalle tappt.
Frau Ruf, sind Sie Feministin?
Ja, ich engagiere mich mit Herzblut für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen geschlechtsspezifsche Diskriminierungen.
Vor bald zwei Jahren fand in Bern der nationale Frauenstreik statt. Wie haben Sie teilgenommen?
Ich war den ganzen Tag unterwegs und habe mit vielen verschiedenen Menschen darüber gesprochen, wo der Schuh noch drückt. Für mich war das ein prägendes Erlebnis, es hat meine Sichtweise nochmals erweitert.
Wie steht es um die Gleichberechtigung von Mann und Frau im April 2021?
Seit der Einführung des Frauenstimmrechts vor 50 Jahren wurden viele Fortschritte erzielt, etwa im Bereich der Bildung, bei der Erwerbsbeteiligung, dem Frauenanteil in der Politik oder der Freiheit der Lebensentwürfe. Grosse Herausforderungen zeigen sich weiterhin bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Väter und Mütter, der Lohngleichheit und bei den Rentenunterschieden. Frauen fehlen bei der Digitalisierung fast ganz. Aber auch stereotype Rollenbilder, Diskriminierungen und geschlechtsspezifische Gewalt sind weiterhin Realität.
Steht Bern, auch die Stadt, in Sachen gleicher Lohn besser oder schlechter da als der Rest der Schweiz?
Ich kann die Frage nur für den Kanton Bern beantworten: Bei der letzten Untersuchung 2018 lag der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern in der Kantonsverwaltung bei durchschnittlich 12,4 Prozent. Hauptgrund ist, dass die Kantonsmitarbeiterinnen weniger häufg in Kaderfunktionen vertreten und jünger sind als ihre männlichen Kollegen. 2,3 Prozent der Lohndifferenz waren nicht mit objektiven Faktoren erklärbar. Das ist vergleichbar mit anderen Verwaltungen.
Doch häufg ist ja die Rede davon, Frauen würden rund 20 Prozent weniger verdienen als Männer. Bei genauerem Hinschauen sind es aber «nur» 7 bis 8 Prozent. Sind 20 Prozent nicht einfach zu hoch gegriffen und dramatisieren die Fakten unnötig?
Beide Zahlen haben ihre Berechtigung: Die vom Bundesamt für Statistik errechnete durchschnittliche Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt von rund 20 Prozent ist Ausdruck der berufichen Ungleichheiten von Frauen und Männern, zum Beispiel aufgrund familienbedingter Karriereunterbrüche oder Arbeit in Tieflohnbranchen. Die Folge davon ist, dass bei der Altersrente die Leistungen der 2. Säule bei Männern doppelt so hoch sind wie bei Frauen. Die sieben bis acht Prozent beziehen sich auf den unerklärten Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern. Im privaten Sektor entsprach diese Differenz 2018 durchschnittlich 684 Franken pro Monat.
Nun stehen Frauen heute alle Türen offen. Sind sie nicht einfach selbst schuld, dass sie weniger verdienen und in höheren Positionen schlechter vertreten sind?
Obwohl Frauen gut ausgebildet und motiviert sind, haben sie weiterhin weniger Chancen. Die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind lückenhaft. Deshalb entscheiden sich Paare oft für eine klassische Rollenteilung, zum Nachteil der Frauen. Weiterhin stossen viele an die «gläserne Decke», wenn sie Karriere machen wollen. Es ist zynisch, das als Selbstverschuldung der Frauen abzutun.
Wo würden Sie als Gleichstellungsexpertin denn am ehesten den Korrekturhebel ansetzen?
Vereinbarkeit von Familie und Beruf steht für mich ganz weit oben. Dazu braucht es einen Kulturwandel und eine Veränderung des Denkens. Viel Potenzial liegt in einer lebenslauforientierten Personalpolitik in den Betrieben: In bestimmten Lebensphasen brauchen Menschen mehr Zeit für die Familie. Zudem sollte der Aushandlung egalitärer Rollen in der Partnerschaft mehr Beachtung geschenkt werden. Das Bundesgericht geht seit kurzem davon aus, dass der kinderbetreuende Elternteil nach einer Scheidung den Lebensunterhalt ab einem gewissen Alter der Kinder grundsätzlich selber verdient. Das trifft heute mehrheitlich Frauen. Die Weichen für kontinuierliche Erwerbstätigkeit und partnerschaftliche Arbeitsteilung müssen deshalb frühzeitig gestellt werden.
Als Gleichstellungsbehörde vertreten Sie ja auch die Männer. Wo haben diese denn den grössten Nachholbedarf?
Männer stehen unter gesellschaftlichen Leistungserwartungen, vor allem was berufichen Erfolg und die fnanzielle Verantwortung für die Familie betrifft, manchmal geht das auf Kosten der eigenen Gesundheit. Care-Arbeit von Männern für Kinder und Angehörige sollte stärker in den Fokus rücken und Männer müssen in dieser Rolle gesellschaftlich bestärkt werden. Hier fndet ein Umdenken statt. Nirgends arbeiten so viele Männer Teilzeit wie in der Stadt Bern. Das Teilen von Verantwortung und ein vielfältigeres Männerbild kann auch Männern neue Perspektiven eröffnen.
Sind Sie auf Männer wütend?
In sozialen Medien gibt es ja diverse Hashtags dazu. Nein, ich sehe Gleichstellung als gesellschaftliche Aufgabe. Es geht darum, Denkweisen, Strukturen und Kulturen zu hinterfragen, die Menschen bei einem gleichgestellten Leben behindern.
In der letzten Zeit entstand der Eindruck, ältere, weisse Männer seien per se böse.
Kategorisierungen dieser Art behagen mir nicht. Fakt ist aber, dass in höheren Entscheidfunktionen oft ältere Männer arbeiten. Viele wurden berufich sozialisiert, als Männer noch stärker unter sich waren. Mit mehr Bewusstsein für veränderte Rollenbilder können sie Gleichstellung voranbringen, die Betriebskultur entwickeln und auch Frauen nachziehen. Folgen sie alten Mustern und fördern vor allem Männer, ist dies für leistungsbereite Frauen demotivierend.
Soll, ja, muss ein moderner Mann Feminist sein?
Gleichstellung geht Männer und Frauen an, unbedingt sollen sich Männer für Gleichstellung und für eine gleichberechtigte Gesellschaft stark machen! Tun sie dies als Feminist, sind sie herausgefordert, ihre eigene Motivation dafür gut zu kennen und sich der eigenen Rolle bewusst zu sein.
Im Berner Stadtrat sitzen fast 70 Prozent Frauen. Eine gute Sache?
Über Jahrzehnte war es umgekehrt … Aktuell wollen viele junge Frauen in den Städten Politik mitgestalten und Verantwortung übernehmen. Die Wählerschaft honoriert das. Ich finde grossartig, dass alte Muster durchbrochen werden. Politik soll die Vielfalt der Gesellschaft repräsentieren. Idealerweise pendeln sich die Geschlechteranteile mit der Zeit ein.
Wie wichtig ist es, dass der nächste Stadtpräsident Berns eine Frau ist?
Über eine Stadtpräsidentin würde ich mich freuen. An Frauen mit dem erforderlichen Profl mangelt es nicht.
Tragen Gendersternchen wirklich zu einer besseren Verständigung von Mann und Frau bei?
Sprache dient der Verständigung, sie prägt aber auch unsere Wahrnehmung und stiftet Identität und Zugehörigkeit. Es ist deshalb naheliegend, Gleichstellung auch in der Sprache umzusetzen.
Wo ertappen Sie sich dabei, gerade in eine Genderfalle getappt zu sein?
Ich versuche mein Denken und Verhalten immer wieder kritisch zu hinterfragen. Dass ich das manchmal zu ausgeprägt mache, ist vielleicht meine ganz persönliche Genderfalle.
Yves Schott