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«Sobald es möglich ist, muss das Zertifikat verschwinden»

Max Reichen, Chef der Berner Bar- und Clubkommission, über den Zustand seiner Branche, die 3G-Pflicht und wieso es neue Betriebe so schwer haben.

Wie geht es den Bars und Clubs in Bern fast drei Monate nach deren Wiedereröffnung?
Sie sind gebeutelt, keine Frage. Fairerweise muss gesagt werden, dass die finanziellen Hilfen zu Beginn der Pandemie schnell und unkompliziert verteilt wurden. Es gibt sicher Betriebe, die mit den Reserven am Limit sind, insgesamt ist die Unterstützung allerdings der Situation angemessen, vor allem im Vergleich mit dem Ausland. Zum Glück ist es nicht so, dass eine ganze Branche vor dem Ruin steht.

Wer die langen Schlangen vor dem Düdü und Co. sieht, stellt fest: Das Bedürfnis nach Party ist gigantisch.
Der Eindruck stimmt, wobei es den jungen Menschen um viel mehr geht als um Alkohol und laute Musik: Ausgang ist für einen Teil der Bevölkerung ein essenzieller Punkt ihrer Freizeit. Um Freunde zu treffen und dem Druck des Alltags zu entfliehen.

Mussten in Bern Bars wegen der Pandemie schliessen?
Von den Betrieben, von denen ich die Details kenne, hatte das weniger mit Geld und mehr mit der Perspektive zu tun. Andere wiederum wurden mit Geld gerettet, zum Beispiel durch Gesellschafter. Ja, das Clubsterben trat nicht ein – es fragt sich bloss, ob es nicht oder noch nicht eingetreten ist.

Was meinen Sie damit?
Nehmen wir an, ein Konzertveranstalter ist auf internationale Headliner angewiesen, diese müssen aber absagen, weil sie nicht hierhin reisen können dann hat dieser Betrieb ein Problem.

Sie haben in früheren Interviews erklärt, die 3G-Regel zu akzeptieren, ohne sie zu bejubeln.
Wir haben aktuell Verständnis dafür. Das Zertifikat ist ein grosser Einschnitt in die Privatsphäre, sobald es der Verlauf der Pandemie zulässt, muss es verschwinden

Unter welchen Umständen würden Sie denn die 3G-Pflicht wieder aufheben?
Eine schwierige Frage, da in unserer Branche die Gefahr einer Virusübertragung relativ hoch ist. Ein gewisses Restrisiko kann man nie ganz ausschliessen – wie hoch das ist, muss die Wissenschaft sagen. Wie viel Risiko wir in Kauf nehmen, ist letztlich ein politischer Entscheid. Nur die Politik ist legitimiert, diese Abwägung zu machen, sicher nicht Interessensverbände oder andere Einzelpersonen.

Einer Ausweitung der Zertifikatspflicht auf Bars oder Restaurants Einer Ausweitung der Zertifikatspflicht auf Bars oder Restaurantsbegegnen Sie logischerweise skeptisch?
Richtig. Andererseits muss man sich überlegen: Ist es vielleicht tatsächlich das moderateste Mittel, um weiteren Corona-Wellen zu begegnen? Dann wehren wir uns nicht dagegen. Denn seien wir realistisch: Wir werden eine der ersten Branchen sein, die von möglichen Verschärfungen betroffen sein werden.

In manchen Ländern gilt bereits die 2G-Regel: Rein darf nur noch, wer geimpft oder genesen ist.
Das ist für uns momentan keine Option. Wir würden uns wünschen, dass zuerst andere Möglichkeiten geprüft werden, etwa mittels Pooltests. Wenn das gesellschaftliche Leben nur noch mit Impfung zugänglich ist, ist das doch sehr einschneidend. Trotzdem ist die Impfung eine wichtige Massnahme zur Bewältigung der Pandemie. Etwas Sorgen macht mir, dass im Kanton derzeit gerade einmal 53 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, das reicht nicht. Nur: Wie bekommen wir die Bevölkerung zum Impfen? Wir sind der Meinung, die Schwellen nochmals tiefer zu setzen. So wie es der Kanton Bern mit dem Impftruck gemacht hat. Oder mit Prämien.

Mit Bratwürsten?
Als Vertreter der Clubbranche hätte ich das jetzt kaum so formuliert (schmunzelt). Roger Schawinski hat Geld verlost – ob es Cash sein muss…nun ja…von mir aus soll ein Meet and Greet einem Bundesrat verlost werden. Wenn ich nicht schon geimpft wäre, würde mich ein Händedruck mit Alain Berset jedenfalls dazu motivieren (lacht). Im Ernst: Die Angebote müssen zielgruppengerecht sein. Jede und jeder kann mit der Impfung einen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie leisten.

Politiker von links bis rechts sprechen sich gegen weitere Lockdowns aus.
Wir blicken mit einer gewissen Unsicherheit in die Zukunft. Andererseits haben wir in der Vergangenheit einiges gelernt – ich denke und hoffe, dass wir mit einem gutschweizerischen Kompromiss durch die nächste Welle kommen. Man sollte daran denken, dass die persönliche Freiheit bei uns deutlich höher gewichtet wird als in Frankreich oder Deutschland.

Wer aktuell einen Club oder ein Fussballspiel besucht, zeigt sein Zertifikat. Die Daten bleiben hingegen anonym – der Veranstalter hat also keine Ahnung, wer nun genau im Stadion ist. Das war letzten Sommer anders: Da mussten persönliche Angaben ausgefüllt werden.
Sie sprechen das Contact Tracing an. Das Zertifikat ist datenschutztechnisch die mildere Lösung, der Veranstalter muss keine Liste führen. Gleichzeitig können potenzielle Kontakte nicht benachrichtigt werden, was ein sehr wichtiger Teil der Pandemiebekämpfung ist. Selbstverständlich erheben wir Kontaktdaten nicht einfach zum Spass.

Diese letztgenannte Praxis kommt derzeit jedoch nicht zum Einsatz.
Nein, nur in Innenräumen von Bars und Restaurants.

Fahren Sie manchmal ins Ausland, um sich von dortigen Bar- und Gastrokonzepten inspirieren zu lassen?
Nicht explizit mit diesem Hintergedanken, nein. Wenn ich allerdings mal, sagen wir, in Hamburg bin, schaue ich selbstverständlich, wie Konzepte dort umgesetzt werden. Wichtig finde ich, Gemeinsamkeiten von Städten zu betrachten. Bern ist Murten beispielsweise um einiges ähnlicher als La Chaux-de-Fonds, das in einer Art amerikanischem Raster gebaut wurde. Da ich selbst nicht mehr als Gastronom aktiv bin, lege ich den Fokus unterdessen mehr auf politische und rechtliche Aspekte.

Hat Corona zu einer Konzentration der Clubszene geführt? Schon vor der Pandemie war eine solche Entwicklung zu beobachten.
Das Berner Nachtleben im Bereich der Clubszene ist sehr statisch, das stimmt. Der letzte Betrieb dieser Art, der eröffnet hat, war das Kapitel – und das ist rund zehn Jahre her. Das hat aber selten mit mangelndem Willen der Branche zu tun, häufig mangelt es einfach an geeigneter Infrastruktur. Industrieareale wie in Berlin oder London existieren in Bern schlicht kaum.

Dafür diverse kleine, enge Altstadtgassen.
Die Rathausgasse, wo wir jetzt gerade sitzen, hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Hier wird die Mediterranisierung des öffentlichen Raums gelebt. Freunde aus Genf oder Zürich sagen mir, dass es bei ihnen so etwas nicht gibt. Doch den dauernden Vergleich mit anderen Städten finde ich müssig – damit macht man sich bloss unglücklich.

Neue Clubs haben generell einen schweren Stand wohl auch, weil die Gesellschaft lärmempfindlicher geworden ist, wie verschiedene Einsprachen zeigen.
Die Stadt befindet sich in einem intensiven Wandel. Bern in den 90ern ist nicht zu vergleichen mit heute. Schweizer Städte bieten heutzutage eine wahnsinnig hohe Lebensqualität – gerade im Vergleich mit anderen Metropolen in Frankreich oder Deutschland. In den letzten zwanzig, dreissig Jahren wurde viel richtig gemacht. Nun zeigen sich die Folgen.

Verstehen Sie jene Anwohnerinnen und Anwohner, die sich nerven, wenn es abends in der Altstadt länger laut ist?
Ja, wobei das ein verschwindend kleiner Teil ist. In den meisten Fällen findet man eine Lösung im Dialog. Aber wir dürfen eins nicht vergessen: Die Stadt gehört niemandem. Weder hat unsere Branche einen absoluten Anspruch darauf, wirtschaften zu können, noch hat die Nachbarschaft Anrecht auf absolute Ruhe. Schlussendlich heisst Zusammenleben Kompromisse finden und andere Meinungen und Ansichten aushalten.

Yves Schott

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