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«Soziale Gewalt bedeutet totale Kontrolle über Kontakte»

Marlies Haller, Geschäftsführerin der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern, ist froh, wenn das Thema Gewalt nicht tabuisiert, sondern thematisiert wird. Die Beratungsanfragen im Kanton Bern sind stark gestiegen.

Mit welcher Art von Gewalt an Frauen und Kindern haben Sie es am häufigsten zu tun?
Unsere Stiftung betreibt zwei Opferberatungsstellen und zwei Frauenhäuser im Kanton Bern. Wir sind spezialisiert auf Frauen und Kinder, die sexualisierte oder/und häusliche Gewalt erleben. Bei der sexualisierten Gewalt haben wir es mit unter anderem mit Vergewaltigung, sexuellen Übergriffen an Kindern, sexueller Belästigung in Abhängigkeit oder am Arbeitsplatz zu tun. Häusliche Gewalt spielt sich grundsätzlich innerhalb einer Beziehung oder innerhalb gegenwärtiger oder ehemaliger familiärer Beziehungen ab.

Wir sprechen hier wohl vor allem von physischer Gewalt?
Häusliche Gewalt definiert sich durch verschiedene Gewaltformen, die bekannteste ist die körperliche Gewalt. Hier geht es von leichter bis zu schwerer Körperverletzung bis hin zu versuchter und vollendeter Tötung, also Femizid. Genauso häufig ist aber psychische, sexualisierte, soziale und ökonomische Gewalt. Bei der psychischen Gewalt denke ich an Bedrohungen, Beschimpfungen, Diffamierung. Soziale Gewalt bedeutet totale Kontrolle über Kontakte. Die ökonomische Gewalt schränkt die Frauen wirtschaftlich ein, indem sie nicht mehr über eigene finanzielle Mittel verfügen.

Ist ein Trend ersichtlich zur Zunahme, Abnahme oder Stagnation?
Während der Pandemie ist die häusliche Gewalt im Kanton Bern gestiegen, nicht aber schweizweit. Es ist eine Wellenbewegung und nicht wirklich erklärbar, wann und warum die Gewalt steigt oder nicht. Während Covid-19 war die häusliche Gewalt in den Medien in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, Stress, Homeoffice und Homeschooling sehr präsent. Menschen, die von Gewalt betroffen waren, holten sich mehr Hilfe. Spannend war festzustellen, dass die Zahl der Beratungen im ersten Lockdown zurückgegangen ist. Ich erkläre mir das so, dass die Frauen keine Hilfe holen konnten, weil sie mit ihren Männern eingeschlossen waren. Sie konnten nicht unkontrolliert telefonieren. Die Beratungen bei häuslicher Gewalt sind derzeit auf hohem Niveau stabil, aber es ist stets ein Auf und Ab. Nicht so bei sexualisierter Gewalt, die ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die mediale Präsenz von Frauenstreiks, der MeToo-Bewegung, des Sexualstrafrechts, der Diskussion über die Vergewaltigung per se hat offenbar bewirkt, dass sich die Frauen bewusst sind, nicht allein zu sein und dass es Hilfe gibt, die sie in Anspruch nehmen können.

Was Sie in den Beratungsstellen sehen, ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?
Wir müssen unterscheiden zwischen sexualisierter und häuslicher Gewalt. Die häusliche Gewalt ist ein Offizialdelikt. Sobald die Polizei davon Kenntnis hat, wird ermittelt und der Fall kommt in die Statistik. In Frauenhäusern und Opferhilfeberatungsstellen unterliegen wir aber der Schweigepflicht. Wir können Frauen und Kinder auch beraten, wenn sie keine Anzeige bei der Polizei eingereicht haben und so nicht in der Kriminalstatistik erscheinen. Dann gibt es eine weitere Dunkelziffer, nämlich jene Frauen, die sich nirgends melden. Die häusliche Gewalt beinhaltet eine Beziehungsdynamik und hat einen klaren Ablauf von Spannungsaufbau, Eskalation und Versöhnung. Es geht ja um eine Familie, um eine ursprüngliche Liebesbeziehung. Diese Abläufe können sich wiederholen und manchmal dauert es lange, bis sich eine Frau wirklich bewusst ist, wie gefährlich es ist und dass sie etwas unternehmen muss, um sich und ihre Kinder vor der Gewalt zu schützen. Oft wird es bei Müttern dann akut, wenn sie merken, dass es auch für die Kinder gefährlich wird.

Geht es in Bern, verglichen mit anderen Schweizer Städten, in Bezug auf Gewalt und sexuelle Übergriffe gesitteter zu als im Rest des Landes?
Ich kenne diesbezüglich keine Städtevergleiche. Aber grundsätzlich kann man sagen, dass Gewalt überall und in allen sozialen Gruppen stattfindet. Auch einen Unterschied zwischen Stadt und Land können wir aufgrund unserer Beratungen überhaupt nicht feststellen. Allerdings ist das Thema Gewalt auf dem Land tabuisierter, man spricht weniger davon.

Was ist das Ziel Ihrer Beratungsleistungen?
Wir bieten Opferhilfeberatungen an. Das ist klar definiert im Opferhilfegesetz, das heisst Schutz, Unterkunft und Beratung von Gewaltbetroffenen, bei uns explizit Frauen und Kinder. Wir eruieren die Bedürfnisse der Hilfesuchenden und bieten entsprechende Lösungsvorschläge: Psychosoziale Beratung durch uns, Psychotherapie, um Traumatisierungen zu verarbeiten, juristischer Beistand einer Anwältin, Aufenthalt in einem Frauenhaus, um sich und die Kinder zu schützen, und Anzeigeberatung.

Suchen Sie auch den Kontakt zum Gewalttäter?
Nein, wir sind auf Frauen und Kinder spezialisiert. Eine Ausnahme machen wir beim Frauenhaus. Wenn die Kinder bei der Gewalt nicht gefährdet sind, ist es ja wichtig, dass sie trotzdem einen Kontakt zum Vater haben. Solche Kontakte organisieren wir, immer darauf achtend, dass der Täter den Aufenthaltsort von Frau und Kindern nicht erfährt. Die Kinder sollen nicht unter der Gewalt zwischen den Elternteilen leiden und dadurch den Vater verlieren. Wir arbeiten mit den Opfern und die dafür spezialisierte Täterberatung befasst sich mit den Tätern. Das macht Sinn. Es geht darum, die Gewaltspirale, welche ja immer eine Dynamik zwischen mehreren Personen ist, aufzulösen.

Gibt es Situationen, in denen Sie nichts tun können?
Unser Ziel ist es, dass Frauen mit ihren Kindern ein Leben ohne Gewalt führen können, in welcher Form auch immer. Wir können so lange helfen, wie die Person Hilfe von uns annehmen will. Ein Zwang dazu besteht nicht.

Wie lange kann eine Frau in Ihren Frauenhäusern bleiben?
Das ist sehr individuell und hängt von der Gefährdung ab. Das geht von einer Nacht bis hin zum Verbleib von mehreren Monaten. Die Finanzierung richtet sich nach Opferhilfegesetz. Solange die Gefährdung vorhanden ist, benötigt das Opfer Schutz und der Aufenthalt wird finanziert. Danach muss eine Anschlusslösung gefunden werden.

Wie fest bewegen Sie die Schicksale betroffener Frauen und Kinder persönlich?
Schlaflose Nächte habe ich deswegen nicht. In der Sozialarbeit lernt man damit umzugehen. Die Balance muss sich zwischen Empathie und professioneller Distanz bewegen. Aber Gewalt macht mich nach wie vor wütend, denn Gewalt zwischen Menschen müsste nicht sein. Die einzelnen Schicksale machen mich aber auch traurig, wenn ich sehe, wie viel Leid erzeugt wird.

Peter Widmer

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