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«Ständig müssen wir uns entscheiden, was wir sind!»

Mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde, können sich trans Personen nicht identifizieren. Henry Hohmann, trans Mann in Bern, erzählt entspannt aus seinem Leben. Was er versteht und was ihn stört.

Henry Hohmann, welches Geschlecht wurde Ihnen bei der Geburt zugewiesen?
Ich wurde bei meiner Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, aufgrund der äusseren Geschlechtsmerkmale, welche die Hebamme oder der Arzt gesehen hat.

Empfinden Sie sich als trans Mann?
Ja, genau. Als eine Person, die erst später von ihrem eigenen Mann-Sein erfahren hat und dies erst entdecken musste.

Mit welchem Personalpronomen möchten Sie demnach angesprochen werden?
Ganz einfach: mit «er».

Wann haben Sie entdeckt, dass Sie anders empfinden als in der Geburtsurkunde eingetragen?
Das habe ich schon im Alter von etwa fünf Jahren gemerkt, wenn Kinder entdecken, dass es zwei «Ausgaben» von Menschen gibt. Man hat das Gefühl, dass das, wofür man gehalten wird, nicht stimmt. Das sagte ich damals meiner Mutter, die diese Gefühle aber als Phase abgetan hatte. Das war in den 60er-Jahren, da wusste man noch wenig davon und von der Weltgesundheitsorganisation WHO wurden solche Empfindungen noch als psychische Erkrankung eingeordnet.

Wie ging es dann bei Ihnen weiter?
Bei mir wurde die Problematik erst mit 46 Jahren wieder virulent. Ich trug unterschwellig immer ein ungutes Gefühl mit mir rum, weil ich mich nicht als «typische Frau» gesehen habe. Meine beiden Schwestern waren aus meiner Sicht ganz anders.

Dann haben Sie sich mit 46 Jahren geoutet?
Nein, damals hatte ich erst ein inneres Coming-out. Nach weiteren zwei Jahren von Information, Vertiefung und Beobachtung kam ich zum Schluss, dass alles in Richtung trans geht. Es folgte ein schrittweiser Prozess, ein dauerndes Suchen und Fragen, weil es für einen ja selbst unvorstellbar ist, dass so etwas sein kann. Erst dann kam das eigentliche Coming-out gegenüber Freunden, Bekannten, Familie und Arbeitgeber. Danach kamen ganz praktische Dinge dazu, wie beispielsweise ein neuer, männlicher Name. Wer sonst als eine trans Person kann sich im Erwachsenenalter noch einen neuen Namen aussuchen? Ich wechselte noch in Deutschland den Vornamen und 2011 den Personenstand und galt ab dann rechtlich als Mann.

Bis zu dieser Zeit durchliefen Sie eine Leidenszeit?
Diese Frage würde jede trans Person unterschiedlich beantworten. Es gibt Leute, die leiden stark, auch physisch, in einem Körper, der nicht zu ihrer Identität passt. Bei mir war das anders. Ich habe die Grenzen, welche diese Geschlechterrollen für uns haben, nicht dermassen gespürt oder spüren wollen. Ich habe erst dann gelitten, als ich erkannte, was ich bin und merkte, dass ich trotzdem in der total falschen Rolle lebe. Vorher empfand ich die Geschlechtsmerkmale noch nicht als falsch, sondern eher als unpassend, das ist ein Unterschied. Nicht alle trans Menschen haben in ihrer Zeit im «alten» Geschlecht gelitten, sondern viele haben sich irgendwie durchgewurstelt und arrangiert.

Sie spielten also bis 2011 immer eine Rolle und waren nicht Sie selbst?
Ich sehe da einen Unterschied zwischen trans Frauen und trans Männern. Es ist in der heutigen Gesellschaft und mit der derzeitigen Mode relativ normal, als Frau in männlichen Kleidern aufzutreten. Aber für einen Mann ist es ein Riesenschritt, sich beispielsweise zu schminken oder sich in einem Rock zu präsentieren. So gesehen konnte ich meine leichte Männlichkeit, die ich immer schon hatte, recht gut ausleben. Niemand steckte mich stark in eine sogenannte «superweibliche» Rolle.

Gab es bei Ihrem Coming-out auch Brüche in Ihrem Umfeld?
Ich bin diesbezüglich ein Glückskäfer! Ich habe eine tolle Familie, einen tollen Partner, einen ebensolchen Arbeitgeber. Es gab niemanden, der mit mir nichts mehr zu tun haben wollte. Gewiss, meine Bekannten und Freunde mussten sich an diese für sie noch fremde Welt erst gewöhnen. Aber sie haben mich ja Schritt für Schritt begleitet, ich bin nicht plötzlich aus dieser Welt verschwunden und dann als perfekter Mann wieder aufgetaucht. Ich weiss aber, dass dies nicht der Normalfall ist. Ich kenne viele trans Personen im Transgender Network, welche Familie, Partner und Bekannte verlieren, weil diese die neue Situation nicht akzeptieren können oder wollen. Niemand geht diesen Weg für sich alleine, wir alle leben in einem sozialen Umfeld, das sich langsam daran gewöhnen muss. Dafür habe ich Verständnis. Es erfordert Zeit auf beiden Seiten, ich übte auch Geduld mit meinem Umfeld.

Sie sind mit einem Mann verheiratet. Auch mit einem trans Mann?
Nein, wir haben schon mehrere Jahre vor meinem Coming-out als Mann und Frau geheiratet. Man bleibt sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz heute nach einer Transition verheiratet. Es geht doch nicht primär ums Geschlecht, sondern um den Menschen. Natürlich entstanden auch bei uns Diskussionen, Fragen, Ungewissheiten. Mein Partner wusste ja nicht, wie ich mich entwickeln würde. Blieb ich noch die gleiche Person, die er einmal geheiratet hat und die er kennt? Bei uns hat die Beziehung gehalten, es war uns beiden sehr wichtig. Nun sind wir seit 29 Jahren verheiratet. Etwa 40 bis 50 Prozent der Beziehungen bleiben bestehen, allerdings aus unterschiedlichen Gründen.

Fühlen Sie sich als trans Person in unserer Gesellschaft diskriminiert?
Da ich den ganzen Prozess in einem eher gesetzten Alter vollzogen habe, wo man mit gewissen Dingen besser umgehen kann als als Jugendlicher, kann ich diese Frage verneinen. Ich fühle mich anerkannt, hatte nirgendwo Probleme beim Coming-out, hatte eine gefestigte berufliche Position. Ich erlebe selten bis nie direkte Diskriminierung. Aber ich sehe natürlich die Grenzen, welche trans Menschen gesetzt sind, nämlich da, wo es strikte Einteilungen zwischen Männern und Frauen gibt. Ich finde es doof, zum Beispiel auf einem Bestellformular nur Mann und Frau ankreuzen zu können. Ständig müssen wir uns entscheiden, was wir sind! Wenn es eine dritte, neutrale Möglichkeit gäbe, würde ich diese schon nur aus Prinzip anwenden, um zu zeigen, dass Geschlecht etwas komplexer ist als bloss «Mann und Frau».

Trans Menschen werden oft auf ihre sexuelle Ausrichtung reduziert. Stört Sie das?
Ja, es ist ein total falsches Verständnis. Früher sprach man nur von Transsexualität, das ist veraltet und deutet in eine falsche Richtung. Das Transsein hat mit Sexualität nichts zu tun. Die Sexualität ist eine ganz andere Schiene, die mit Leidenschaft und Lust zu tun hat. Die sexuelle Ausrichtung bezeichnet das, was ich suche und die Geschlechtsidentität ist das, was ich bin.

Was raten Sie einem Menschen, wenn er sich in dem ihm zugewiesenen Geschlecht nicht mehr wohlfühlt?
Ich rate ihm, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, sich mit anderen trans Personen auszutauschen. Ich organisiere in Bern regelmässig einen Stammtisch für trans Menschen zum gegenseitigen Austausch. Dort gibt es eine Fülle von ganz unterschiedlichen Schicksalen und Wegen. Eine Person, die neu dazukommt, weiss, dass sie nicht allein ist. Die meisten glauben nämlich, mit diesem Thema allein auf der Welt zu sein. Wichtig ist, nichts zu überstürzen. Es ist ein langer, oft beschwerlicher Gang.

Wie viele trans Menschen gibt es in der Stadt Bern?
Darüber weiss man nichts, weil man ja auch nicht zählt. Viele sind zudem nicht geoutet. Es gibt aber Umfragen aus dem nahen Ausland, wonach etwa 0,5 bis etwa 3 Prozent der Personen trans sind oder sich nicht vollständig mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen worden ist. Bei TGNS sprechen wir von 0,5 Prozent der Bevölkerung, was etwa 40000 Menschen in unserem Land entspricht. Das ist nicht ganz unerheblich.

Peter Widmer

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