In Bern soll bald überall Tempo 30 gelten. Sibylle Plüss (TCS) und Michael Sutter (Pro Velo Bern) streiten sich über Sinn und Unsinnsolcher und anderer Ideen.
Die Fronten zwischen Auto- und Velobefürwortern scheinen verhärtet, gerade in der Stadt Bern. Empfinden Sie das auch so?
Michael Sutter: Es besteht schon eine Art Kampf um den begrenzten Platz. In den 60er-Jahren wurde be-gonnen, die autogerechte Stadt zu bauen, nun ist man dabei, sie wieder velo- und fussgängerfreundlicher zu machen. Das geht oft zulasten der Autos und weckt teils berechtigte, mehrheitlich aber unberechtigte Ängste.
2015 erklärte die damalige Gemeinderätin Ursula Wyss Bern zur Velohauptstadt. Zu Recht?
Sibylle Plüss: Mir stellt sich immer zuerst die Frage, ob es die Politik ist, die das wünscht, oder die Bevölkerung. In Bern ist diese Politik vom Volk gewollt. Unter diesem Aspekt finden wir vom TCS die Velopolitik in Ordnung. Bloss wäre meiner Meinung nach ein Nebeneinander problemlos möglich, vor allem, weil viele Velofahrer ja gleichzeitig ein Auto besitzen.
Wer die öffentlichen Debatten mitverfolgt, erhält den Eindruck, dass es allerdings eher ein Gegen- statt ein Miteinander ist.
Sutter: Ich bin immer wieder erstaunt, wenn aus bürgerlichen Kreisen Widerstand gegen Temporeduktionen bei Schulhäusern erfolgt oder wenn aus Prinzip bei jeder Parkplatzaufhebung Einsprache erhoben wird. Hinter den Kulissen erlebe ich es hingegen eher so, dass man auch mit bürgerlichen Politikerinnen und Politikern durchaus Kompromisse schliessen kann.
Plüss: Dass wir uns gegen Temporeduktionen bei Schulhäusern oder jeden aufgehobenen Parkplatz wehren, stimmt so schlicht nicht. Was uns tatsächlich ein Dorn im Auge ist, ist flächendeckendes Tempo 30 auf Hauptstrassen, auf denen heute Tempo 50 gilt. Und da geht es explizit nicht um Quartier- oder Schulstrassen. Ich selbst habe drei Kinder und setze mich sehr wohl für eine Temporeduktion bei Schulhäusern ein. Was mir nicht einleuchtet, ist, wieso zum Beispiel auf der Monbijoubrücke eine Limite von maximal 30 Stundenkilometern gelten soll.
Tempo 30 statt 50 ist leiser, sicherer und nicht zuletzt umweltfreundlicher.
Plüss: Morgens, wenn Kinder unterwegs sind, macht diese Regelung sicher Sinn. Abends, mit weniger Menschen auf den Strassen, ist 50 problemlos möglich. Ständiges Bremsen und wieder Gas geben verursacht übrigens ebenfalls Lärm und ist nicht zwingend ökologischer. Noch etwas zu den Kindern…
Bitte!
Plüss: In einer Begegnungszone mit Tempo 20 haben sie Vortritt, andernorts gilt wieder Tempo 30, wo wiederum die Autos vortrittsberechtigt sind…das ist für Kinder ziemlich verwirrend. Besser wären einheitliche Vorschriften, an die sie sich gewöhnen können. Deshalb ist Tempo 30 nicht unbedingt sicherer.
Mit anderen Worten: Ihre Massnahmen, Herr Sutter, sind kontraproduktiv!
Sutter: Autos einfach den Vortritt zu lassen, halte ich für eine antiquierte Vorstellung. Deshalb sollte in der ganzen Stadt Tempo 30 gelten, dann haben wir dieses Wirrwarr gelöst!
Mit 30 Stundenkilometern im Auto über die Monbijoubrücke rumeiern – das ist doch ideologische Zwängerei!
Sutter: In einer dicht besiedelten Stadt spielt die Frage des Lärms eine grosse Rolle. Ausserdem ist die Sicherheit natürlich auch nachts ein wichtiges Anliegen. Uns geht es nicht darum, Autos zu schikanieren, sondern um mehr Lebensqualität.
Tempolimiten sind ein heisses Eisen, Parkplätze ein anderes. 2019 erklärte der Gemeinderat, in Bern die Hälfte der rund 17 000 Parkplätze aufzuheben. Gleichzeitig hat die Zahl der Autos zwischen 2014 und 2017 zugenommen. Das soll einer verstehen, Herr Sutter.
Sutter: Die Zahlen, die Sie soeben genannt haben, beinhalten die öffentlichen Parkplätze. Eine Mehrheit befindet sich allerdings auf privatem Boden. Etliche Einstellhallen sind schlecht ausgelastet, weil die Blaue-Zonen-Karten zu günstig sind und somit viele ihr Auto lieber dort abstellen. Sehen Sie: 57 Prozent der Berner Haushalte besitzen kein Auto, da kann es doch nicht sein, dass ein Grossteil des öffentlichen Raums mit Parkplätzen zugestellt ist. Mehr Parkplätze bedeuten mehr Verkehr. Wenn man sieht, was aus dem Bundesplatz wurde, denke ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wie sollen Ihrer Meinung nach denn die freiwerdenden Parkplätze genutzt werden?
Sutter: Grünflächen und damit Versickerungsflächen schaffen zum Beispiel. Zudem könnten Kinder den Raum zum Spielen benutzen; oder die Leute stellen ihre Gartenstühle auf die Strasse statt auf den Balkon und nehmen dort ein Apéro.
Barbecue klingt schon besser als Blechlawine.
Plüss: Das tönt in der Theorie sicher gut. Doch was machen Sie, wenn jemand im Lift feststeckt und der Monteur nicht hinfahren kann? Man darf auch Feuerwehr und Polizei nicht vergessen. Ich als dreifache Mutter würde mein Kind nie unbeaufsichtigt in einer Tempo-20-Zone spielen lassen. Was das Apéro anbetrifft: Das findet dann wohl ebenfalls nicht jeder Nachbar toll. Ich möchte betonen: Wir vom TCS stemmen uns ja nicht grundsätzlich gegen solche Ideen, aber die Autos sind halt einfach da.
Mag sein, doch Verkehr lässt sich steuern. Wird die Stadt für Autos unattraktiv, nimmt deren Zahl über kurz oder lang ab.
Plüss: Das glaube ich eben nicht. Die Stadt setzt nicht erst seit gestern auf Velos und Fussgänger – doch die An-zahl an Autos steigt. Sperrt man eine Strasse ab, fahren die Autos einfach an einem anderen Ort durch.
Sutter: Paris hat den motorisierten Verkehr relativ radikal zurückgedrängt und gewisse Strassen schlicht gesperrt. Was ist passiert? Die Autos bleiben seither aus, dafür hat ein gigantischer Veloboom eingesetzt. Folglich stimmt die vorhin genannte These nicht. Das sieht man auch daran, dass der Verkehr bei Inbetriebnahme einer zusätzlichen Tunnelröhre jeweils zunimmt. Zudem stammt der grösste Anteil des Berner Verkehrs wohl von auswärts. Ich fahre jeweils aus dem Westen ins Zentrum und sehe viele Nummern mit Freiburger Kennzeichen. In die Stadt zu pendeln, scheint also weiterhin sehr attraktiv zu sein.
Für Sie ist es ein Leichtes, zu sagen, man solle mit dem Velo in die Stadt fahren. Doch was machen jene, die in der Agglomeration oder noch weiter weg wohnen?
Sutter: Nun, es existiert ja kein Verbot, in der Stadt Auto zu fahren. Es sollen bloss Anreize geschaffen werden, es möglichst nicht zu tun. Mit weniger Parkplätzen oder durch Sperrung gewisser Strassen, aber auch mit einem guten ÖV-Angebot und einem flächendeckenden Veloverleihsystem.
Anreize statt Verbote – genau so muss es doch sein!
Plüss: Dagegen gibt es grundsätzlich nichts einzuwenden – wenn die Leute denn darauf einsteigen. Wahrscheinlich wäre es allerdings ehrlicher, wenn man einfach sagen würde: Wir wollen keine Autos mehr in der Innenstadt. Der Mensch ist bequem, eine drei Minuten längere Fahrzeit hält niemanden vom Autofahren ab. Und das ist dann überhaupt nicht ökologisch!
Aber Hand aufs Herz: Zu einer komplett autofreien Innenstadt würden Sie doch niemals Ja sagen?
Plüss: Ich persönlich habe in der Stadt keinen Bedarf an einem Auto. Die Wirtschaft schon. Ich erinnere an die Zuliefer-Debatte über die Migros in der Marktgasse.
Sutter: Eine autofreie Innenstadt? Unbedingt. Mischlösungen wie in der Unteren Altstadt führen zu nichts. Dort, wo die Innenstädte autofrei sind, floriert hingegen das Gewerbe, das lässt sich in ganz Europa beobachten. Die Angst vor einer Komplettabschottung ist völlig unbegründet.
Plüss: Mir fehlt es ehrlich gesagt nach wie vor an einem Gesamtverkehrsprojekt für diese Stadt. Es wirkt eher wie Pflästerlipolitik.
Sutter: Die verkehrspolitischen Zielsetzungen des Gemeinderates sind klar: Ausbau eines umweltfreundlichen, platzsparenden Velo- und Fussverkehrs und ÖV sowie eine Reduktion des motorisierten Individualverkehrs. Dass es kaum sinnvoll ist, bereits jetzt ein fixes langfristiges Zielbild zu definieren, leuchtet angesichts der sich schnell wandelnden Gesellschaft ein.
Zum Schluss eine interessante Zahl: Gemäss einer Umfrage, die Pro Velo Bern letztes Jahr durchgeführt hat, fühlt sich jede dritte Velofahrerin und jeder dritte Velofahrer auf seinem Bike unsicher. Das muss doch zu denken geben.
Plüss: Dazu kann ich mir ein Schmunzeln kaum verkneifen. Gefühlt jeder Zweite fährt bei Rot mit dem Velo über die Ampel. Verkehrsstatistiken sagen zudem, dass es heute deutlich weniger Tote und Verletzte im Strassenverkehr gibt.
Sutter: Und warum? Nicht zuletzt auch wegen Temporeduktionen! Ich mag ausserdem Schwarz-weiss- Zuweisungen nicht. Es braucht einen respektvolleren Umgang aller Verkehrsteilnehmenden.
Wie würde die Verkehrspolitik aussehen, wenn Sie freie Hand hätten, Frau Plüss?
Plüss: Eine klare Trennung zwischen Velo und dem motorisierten Individualverkehr, wo immer möglich, sprich: Dort, wo es genug Platz hat. Und da scheiden sich ja bekanntlich die Geister.
Letzte Frage: Wie häufig fahren Sie bei Rot über die Ampel, Herr Sutter?
Sutter: Ich führe keine Statistik. (lacht) Es gibt manchmal Situationen in der Nacht, wenn weit und breit niemand unterwegs ist, da kann das zugegebenermassen schon mal vorkommen. Seit ich Präsident von Pro Velo Bern bin, gebe ich mir aber wirklich Mühe, mit gutem Beispiel voranzugehen. (lacht)
Wie häufig haben Sie andererseits über Velofahrer geflucht, die Ihnen den Weg abgeschnitten haben, Frau Plüss?
Plüss: Ganz selten. Ich fluche während der Fahrt eher selten, und wenn, dann eher über andere Automobilisten als über Velofahrer. (lacht)
Yves Schott