Der Tod hat kein Gesicht, keinen Namen. Nur er weiss, wann er zuschlägt. Die Tochter von Sandra und Alain Keusen holte er sich jedenfalls viel zu früh. Teil zwei der Serie über das Tabuthema Kindstod.
Es sind Nachrichten, die fassungslos machen. Am 10. Juni 2018 stirbt die kleine Tochter von Ex-Skistar Bode Miller und Morgan Beck – das 19 Monate alte Kind ertrinkt im Pool der Nachbarn. Vor wenigen Wochen nimmt die Welt teil am tragischen Schicksal von Julen: Der 2-Jährige fällt im Süden Spaniens in einen Brunnenschacht und kann nur noch tot geborgen werden. Auch Sandra und Alain Keusen aus dem Spiegel bei Bern trauern: Ihre kleine Lia Neyla überlebt die Folgen eines schweren Gendefekts nicht, wird nur etwas mehr als ein Jahr alt. Im Bärnerbär reden sie nun zum ersten Mal öffentlich darüber. Berührend, offen, ehrlich. Um aufzurütteln. Um eine Diskussion auszulösen. Und um Betroffenen zu helfen.
Die härteste Prüfung ihres Lebens
Bald ist es wieder soweit. Am 20. Februar jährt sich Lia Naylas Todestag zum dritten Mal. Vier Jahre alt wäre sie nun. Doch das kleine Mädchen überlebte nicht, starb viel zu früh an den Folgen eines schweren Genfehlers. Der Schicksalsschlag, den die betroffenen Eltern hinnehmen mussten, ist schier unerträglich. Für jene, die die Geschichte zum ersten Mal hören – für die Familie selbst sowieso. Und doch möchte sie an diesem Freitagmorgen mit dem Bärnerbär darüber reden.
«Ich war jeden Tag mit frischer
Operationsnarbe sechs Stunden bei Lia.»
Sandra und Alain Keusen leben im Spiegel bei Bern. In der Wohnung riecht es nach Kerze, ein Hauch Zimt liegt in der Luft. Schmuck eingerichtet, grosses Sofa, ein beleuchtetes Holzfenster mit getönten blauen Scheiben als Dekoration, aus der Stereoanlage ertönt gut hörbar Popmusik. Ganz normale Geschichte, könnte man meinen. Doch die Trauer hat hier keinen Namen, kein Gesicht, keine Farbe. Sie zeigt sich erst im hintersten Raum, dort, wo Lia Nayla bis zuletzt gelebt hat. Ein Kinderzimmer ohne Kind; ein furchtbar leerer Ort.
Die Ärzte sind ratlos
Sandra Keusen ist 42 Jahre alt, als das Baby per Notfallkaiserschnitt im Lindenhofspital zur Welt kommt, weil es sich in einer Beckenendlage befand und die Wehen sich bereits intensiv gestalteten. Der 1. Februar 2015, ein kalter Sonntag. Draussen schneit es. Die Schwangerschaft verlief bis dahin ohne Probleme. Der Apgar-Index, ein Wert, der zeigt, wie gut ein Neugeborenes den Entbindungsstress überstanden hat, liegt bei 8-9-10. Zahlen, die jede Hebamme jubeln lassen. Alles im grünen Bereich. Doch die Freude währt nur allzu kurz.
Nur 24 Stunden später liegt Lia Nayla auf der Intensivstation des Inselspitals. Kinderkliniken, Stock B. Das Mädchen zeigt epileptische Anfälle, zuckt und verkrampft sich. Die Ärzte sind ratlos, probieren verschiedene Therapien und Medikamente aus. «Sie litt an einem sogenannten Natriumkanaldefekt infolge einer seltenen Genmutation. Dieser spezifische Fehler wurde in der westlichen Welt zum ersten Mal überhaupt so protokolliert», sagt Keusen. «Alles, was man ihr gab, war quasi ein Durchlauferhitzer, ihre Zellen konnten diese Nahrung stoffwechselbedingt nicht umsetzen.» Die Krankheit führt dazu, dass Lia Nayla unter anderem an heftigen Organkrämpfen leidet.
Statt sich im Lindenhof von den Strapazen der Geburt zu erholen, wie das andere Mütter tun, verbringt Keusen viel Zeit in der Insel, will ihre Kleine so oft wie möglich sehen. «Ich war jeden Tag mit frischer Operationsnarbe sechs Stunden bei Lia. Mittags flog ich aus Sehnsucht fast zu ihr. Abends musste mich Alain dann praktisch im Rollstuhl zurückbringen. Ich erhielt Morphium, weil ich die Schmerzen durch das ständige Stehen fast nicht mehr aushielt.»
«Heute ist sie mir sogar näher als früher,
als ich sie in den Armen hielt.»
Fünf Tage nach der Niederkunft wird Sandra Keusen alles zu viel. Nur noch weg vom Spital, ab in die eigenen vier Wände. All die glücklichen, frischgebackenen Mamis – sie hält es nicht mehr aus. Doch die Rückkehr hätte sie sich eigentlich anders vorgestellt. «Du kommst nach Hause, aber dein Kind ist nicht da. Für mich war das einer der härtesten Momente.» Wann die frischgebackene Familie ihre Lia Nayla endlich in die Arme schliessen kann? Keiner weiss es zunächst.
Keinen Anfall gibt es nie
Ende Juni 2015 ist es schliesslich soweit. Die beiden Eltern stellen sich der Aufgabe, der «harten Prüfung», wie Alain es nennt, ganz alleine, in ihrem Zuhause. Sandra trägt ihre Tochter teilweise bis zu sechs Stunden am Stück herum. «Man musste sie in den Armen halten und, im Gegensatz zu einem ‹normalen› Epileptiker, nicht etwa weglegen und in Ruhe lassen, um sie zu beruhigen.» Wenn es hochkommt, erleidet Lia Nayla bis zu 120 Anfälle am Tag. Keinen einzigen Anfall gibt es nie.
Lias Epilepsie-Muster sind atypisch. «Es war unmöglich, sie in eine bestimmte ‹Schublade› zu werfen. Noch im April hatte sie ein fast normales EEG, also den Entwicklungsstatus eines Kindes in ihrem Alter.» Es konnte passieren, dass Sandra ihre Kleine wickelte und sie von einer Sekunde auf die andere einfach einschlief – obwohl sie zuvor aufgrund der Organkrämpfe noch stundenlang geschrien hatte. «Danach allerdings haben wir sie nicht mehr angefasst.»
Um die Medikamente kümmert sich das Paar selber. Ausserdem bringen Sandra und Alain ihr Baby immer mittwochs ins Zentrum Oberwald in Biberist SO, das sich um Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen kümmert, und holen es am Freitag wieder ab. «So hatten wir die Möglichkeit durchzuatmen», sagt Sandra, die stets ruhig und bedächtig, aber nie aufgeregt und dramatisch spricht. Im Kanton Bern war schlicht kein Platz mehr frei.
Zu all den körperlichen und seelischen Strapazen kommt die soziale Isolation. «Wenn wir spontan irgendwo hingehen wollten, bedeutete das für uns: Wir sind in etwa zweieinhalb Stunden parat! Das war die Zeit, die wir brauchten, um sämtliche Logistik vorzubereiten.» Ein kurzentschlossener Ausflug an die Aare etwa liegt schlicht nicht drin.
Zudem empfindet die Familie es in dieser Zeit als belastend, wenn Leute sie ignorieren – aus Furcht, aus Scham, aus Angst. «Gar nichts tun ist schlimmer als vielleicht mal ein falsches Zeichen zu setzen», versucht Sandra Keusen zu erklären. «Uns als Betroffenen fehlte oft die Kraft, auf andere zuzugehen. Das intensivierte die soziale Situation noch mehr.»
«Sie konnte nicht mehr»
Erst im Dezember, rund zehn Monate nach der Geburt, können die Spezialisten im Spital den Gendefekt genau bestimmen, wissen jetzt endlich, womit sie es genau zu tun haben. Lia Nayla hat da schon einen grossen Teil ihres Augenlichts verloren – Nebenwirkungen eines Medikaments, welche gegenüber dem Ehepaar nicht erwähnt wurden.
Im Januar 2016 verschlechtert sich Lias Zustand immer mehr. «Es zeichnete sich ab, dass sie nicht mehr konnte», sagt Alain, der sein Studium als Informatikingenieur bald abschliesst. Sandra ergänzt: «Wenn wir ihr wieder ein Sedativum in den Schoppen mischen mussten, damit sie eine Chance auf etwas Schlaf hatte, wurde sie hässig, sie schien das zu merken. Dafür bin ich ihr dankbar: Sie hatte einen eigenen Charakter.» Am 20. Februar schliesslich hört ihr Herz auf zu schlagen.
Kurz nach Lia Naylas Tod will Sandra ihrer Tochter einen Abschiedsbrief schreiben. Der Pfarrer rät ihr, den sechsseitigen Text bei der Abdankung selbst vorzulesen. «Ich wusste zuerst nicht, ob ich das kann.» Doch Alain steht ihr bei, wortwörtlich, weicht bei ihrer Rede vor 140 Leuten keinen Schritt von ihrer Seite. «Da wusste ich: Lia, aus dieser Sinnlosigkeit, die wir hier erleben, soll ein Sinn entstehen. Daraus wurde ‹Ein Stück Himmel›.» Keusen ist heute selbst Zeremonienrednerin – für Hochzeiten, Willkommensfeiern und hält Abdankungen für Verstorbene jeden Alters ab.
«An manchen Tagen vermissen wir Lia Nayla mehr als an anderen. Es gibt sogar Tage, an denen wir lachen dürfen.» Doch die naive und unverblümte Freiheit von damals, sie werde wohl nie mehr zurückkommen, glaubt Sandra Keusen. «‹Ich freue mich›, dieser Satz existiert kaum mehr in meinem Wortschatz. Dieses überschwappende Gefühl, wenn ich mich früher auf ein Wellness-Wochenende oder auf die Fasnacht gefreut habe, das vermisse ich.»
Noch zweimal schwanger
Es gibt immer wieder Tage, an denen sie morgens erwacht und ihr zum Weinen ist. «Du denkst dann: Wie beschissen ist das eigentlich alles? An anderen Tagen allerdings bin ich einfach nur dankbar, dass wir sie erleben durften, dass wir daran schnuppern durften, Eltern zu sein.»
Besonders auf die Stimmung drücken Weihnachten oder Geburtstage. Am 1. Februar erst backte sie für Lia Nayla einen Kuchen – als Zeichen ihrer grossen Verbundenheit mit Lia Nayla. «Ich fragte mich dann, ob er ihr gefallen würde.» Sandra Keusens Stimme stockt jetzt, die Augen glänzen feucht. Traurigkeit nimmt den Raum für einige Sekunden ein, die Ohnmacht wird fassbar.
Keusen erlitt kurz nach Lias Tod zwei weitere Prüfungen: Im Juli und dann im Dezember 2016 war sie nochmals schwanger, verlor den Fötus aber jeweils in der sechsten Woche. Sie erzählt es ganz nebenbei. «Danach brauchte ich eine Pause. Abstand.» Obwohl nicht mehr in den Dreissigern, ist sie Nachwuchs nicht abgeneigt. «Wenn es sein soll, soll es sein.»
Mit Alain ist sie seit 10 Jahren zusammen, im August 2015, einige Monate nach Lias Geburt, gaben sie sich im Schlossgarten von Gerzensee das Jawort. Sie gehören zu den wenigen Paaren, die sich nach einer fundamentalen Krise, wie sie sie erleben mussten, nicht getrennt haben. «Wir haben, auch als Lia Nayla schon auf der Welt war, stets einen Abend zusammen verbracht. Und wir haben von Anfang an immer viel Zeit für uns und unserer Kommunikation eingeplant.»
Seit bald drei Jahren ist Lia Nayla fort, kommen wird sie nie mehr. Das wissen Sandra und Alain. Doch: «Heute ist sie mir sogar näher als früher, als ich sie in den Armen hielt, denn sie ist jetzt in meinem Herzen», sagt die Gesundheitstherapeutin, die diesen Beruf immer noch zu 30 Prozent ausübt.
«Sie fehlt, jeden Tag, und zwar bis zu meinem letzten Atemzug. Denn sie war mein Kind.» Die Sonne zu sehen, wenn es vor ihrem inneren Auge mal wieder regnet – diesen Spagat werden die Keusens, ihres bewundernswerten Optimismus zum Trotz, weiterhin zu meistern versuchen. Sie tun es immerhin schon das eine oder andere Mal mit einem Lächeln.
Yves Schott
ZUHÖREN – VERSTEHEN – MITFÜHLEN – TRÖSTEN – BEGLEITEN
Sich jemandem anzuvertrauen, wenn man am verletzlichsten ist braucht viel Überwindung und Kraft. Doch zu spüren, dass man verstanden und aufgefangen wird, von jemandem der eine ähnliche Erfahrung machen musste, ist auf dem Weg der Trauerreise nach dem «Verlust» seines Kindes sehr hilfreich und wertvoll.
Die Jasmina Soraya Fondation unterstützt und begleitet Sternchen Familien und deren Angehörigen in Bern, aber auch gesamt schweizerisch, auf dem Weg zurück in ein selbstbestimmtes und kraftvolles Leben nach dem Tod seines geliebten Kindes, unabhängig wann oder wie das Baby oder Kind verstorben ist. Wir alle sind selber betroffene Eltern und wissen was es bedeutet, diese Erfahrung machen zu müssen.
Die sehr individuelle und persönliche Begleitung liegt unserer Stiftung sehr am Herzen, denn jede Familie hat andere Bedürfnisse. Unsere liebevoll ausgesuchten Netzwerk-Partner ergänzen unsere ehrenamtliche Herzensarbeit, damit die betroffenen Familien fachlich und menschlich kompetent begleitet werden können. Ausserdem bieten wir durchs Jahr hindurch bedürfnisgerechte Workshops, Seminare und Events an, die für Austausch und wertvolle Begegnungen sorgen.
Informationen zur Stiftung unter: www.jasminasoraya.ch oder gerne auch via Telefon unter +41 76 575 03 02. Jasmina Soraya Fondation, Weidenstrasse 36, CH-4106 Therwil.
Der Bärnerbär nimmt sich des Tabuthemas Kindstod in einer zweiteiligen Serie an. Vergangene Woche zeigten wir, wie Intensivpflegefachfrau Simone Keller in den Kinderkliniken des Inselspitals arbeitet (Ausgabe vom 5. Februar).