Seit den Terroranschlägen vor genau einem Monat ist in Sri Lanka nichts mehr, wie es mal war. Eine belastende Situation für Tamilen wie den Berner Kirchwart Seelan Arockiam.
Er hat gebetet. Vor allem das. Um das Unfassbare zu verarbeiten. Um zu begreifen, was eigentlich niemand begreifen kann. Vielleicht auch, um die schrecklichen Bilder, mit denen er im Fernsehen und im Internet tagtäglich konfrontiert wurde, zu verdrängen. Der 21. April 2019, er hat Seelan Arockiam in seinen Grundfesten, und vor allem in seinem Glauben erschüttert. 258 Menschen kamen bei den Anschlägen am Ostersonntag ums Leben, Hunderte wurden verletzt.
Näher zusammengerückt
Seit 28 Jahren lebt Seelan Arockiam in der Schweiz, seit fünf Jahren amtet er in der St. Michael-Kirche in Wabern als Zentrumsleiter und Sakristan. Kontrolliert die Gebäude, trifft Vorbereitungen für Feste und Gottesdienste und arbeitet eng mit Douglas Milton Soosaithasan, dem katholischen Pfarrer aller tamilisch-sprechenden Gemeinden in der Schweiz, zusammen. Er ist katholischer Tamile, aufgewachsen im Norden Sri Lankas. Dann musste er wegen des Bürgerkriegs flüchten, wie so viele seiner Landsleute, die in der Schweiz leben. Seit 2009 herrscht in der ehemaligen britischen Kolonie offiziell Frieden. In den letzten zehn Jahren hat sich das von Krisen geschüttelte Land entwickelt: politisch und wirtschaftlich. Zuletzt prosperierte der Tourismus. Jedes Jahr reisten Zehntausende Europäer dorthin, um Tempel zu besichtigen, sich bei einer Ayurveda-Massage zu entspannen oder die bisweilen immer noch einsamen, endlos langen Sandstrände zu besuchen. Und nun das. Diese Attentate, ausgeführt von islamistischen Terroristen, die sich gegen Arockiams Religion, das Christentum, richteten. «Wir Tamilen stehen unter Schock. Mit so etwas hätte niemand gerechnet.» Natürlich habe er, der mit seiner Frau und seinem einzigen Sohn in der Region Bern lebt, danach sofort Kontakt mit Freunden und Verwandten aufnehmen wollen. «Wir haben es via Whatsapp und Viber probiert, doch diese Medien waren zeitweise blockiert.» Allen geht es gut, zum Glück. Die beiden Schwestern, zwei Nichten und ein Neffe, die gestorben sind, wurden schon viel früher, im Bürgerkrieg, getötet. Durch die Anschläge sei man innerhalb der religiösen Gemeinschaft näher zusammengerückt, erklärt der 56-Jährige. Im Haus der Religionen am Europaplatz wurde ein ökumenischer Gottesdienst organisiert. Buddhisten, Moslems, Christen, Hindus, alle zusammen. Der amerikanische und indische Botschafter waren da. Der ständige UNO-Vertreter der Schweiz ebenfalls.
Der Sohn möchte nicht mehr zurück nach Sri Lanka
«Ich habe eine Rede gehalten», sagt Arockiam. «Ich sprach über Liebe und Solidarität, die es zwischen den Religionen braucht. Nur so können wir friedlich zusammenleben.» Zuletzt hat Arockiam seinen Heimatstaat im April 2018 besucht. So bald möchte er nicht wieder dahin – ebenso wenig sein Sohn. Obwohl ihm die derzeitige Situation fast das Herz zerreisst. «Niemand will mehr Krieg in Sri Lanka, wir haben doch schon so viele Leute verloren.» Dem Erzbischof von Colombo, Kardinal Albert Malcolm Ranjith, ein 71-jähriger Geistlicher, spricht Arockiam ein grosses Kompliment aus. «Er hat die Situation mit seinen Worten beruhigt. Selbst Moslems sagen, dass die Stimmung ohne ihn aufgeheizter wäre.»
Hoffen auf eine ruhige Phase
Wie es mit Sri Lanka nun wohl weitergeht? «Wir hoffen auf eine ruhige Phase. Jesus hätte gesagt: Seid lieb miteinander und liebt andere genauso wie euch selbst. Das müssen wir immer in unseren Herzen behalten.» Ob das Land zu neuer Stabilität findet, wird sich zeigen. Dafür benötigt es erst einmal Zeit. Und keine neuen Anschläge. Die Hoffnung in der Bevölkerung lebt. Das tat sie schon immer. Es bleibt ja nichts anderes übrig.
Yves Schott