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Ursina Anderegg: «Die Hetze gegen queere Menschen muss aufhören!»

Ursina Anderegg setzt sich an der Uni Bern täglich mit Problemen von Menschen aller Geschlechter auseinander. Sie ist besorgt über die vermehrte Aggression und ruft zu mehr Gelassenheit mit dem Thema auf.

Ursina Anderegg, womit beschäftigen Sie sich konkret?
Wir beraten einerseits Universitätsangehörige, wenn sie sich diskriminiert fühlen. Weiter realisieren wir Präventions- und Sensibilisierungsprojekte, unter anderem zu queeren Themen, aber auch zur Gleichstellung von Frauen und Männern. Andererseits gehört strukturelle Arbeit zusammen mit den Fakultäten oder der Unileitung zu unserem Zuständigkeitsbereich, um Hürden für verschiedenste soziale Gruppen abzubauen.

Am 17. Mai beging die Uni Bern den Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie. Worum ging es an dieser Veranstaltung?
Diesen Tag begehen verschiedenste Institutionen und Staaten in Erinnerung an 1990, als die WHO die Homosexualität als Krankheit aus dem internationalen Krankheitskatalog gestrichen hat. Der Internationale Tag soll deshalb daran erinnern, dass Homo, Trans und Bi sowie Interfeindlichkeit nach wie vor ein Thema sind. Die beteiligten Institutionen wollen damit ein solidarisches Zeichen setzen. Unsere Universität beging diesen Tag am 17. Mai zum zweiten Mal. Mit Veranstaltungen und Aktionen wollen wir die Menschen sensibilisieren und heissen alle willkommen.

Noch bis vor wenigen Jahren sprach man in der Geschlechterdiskussion von Männern und Frauen. Heute von «allen Geschlechtern». Ist die Bevölkerung damit überfordert?
Ich bestätige die Komplexität des Themas. In den letzten Jahren lief viel bezüglich Emanzipation und Sichtbarkeit diverser Geschlechtsidentitäten. Man darf aber nicht vergessen, dass es schon immer eine Geschlechtervielfalt gab, ausserhalb von Mann und Frau. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft schon sehr lange stark strukturiert in Männer und Frauen. Es ist nun eine grosse Herausforderung für unsere Gesellschaft, um mit der für uns neuen Sichtbarkeit zurecht zu kommen und eine gemeinsame Sprache zu finden. Da ist noch viel Unsicherheit vorhanden und wir müssen noch eine Menge voneinander lernen.

Wurde das Thema einfach bisher ­tabuisiert?
Ja, wir sprechen in der Soziologie von Unterdrückungsmechanismen. Was nicht sein darf, darf nicht sichtbar sein. Es ist noch nicht lange her, da war es undenkbar, sich am Arbeitsplatz als homosexuell, geschweige denn als trans zu outen. Durch einen langen politischen Kampf ist heute die «Ehe für alle» mehrheitsfähig. Parallel wurde viel erreicht in der Entstigmatisierung von Geschlechtsidentitäten, die nicht der Norm entsprechen. Immer mehr Menschen trauen sich endlich, ihre eigentliche Identität zu leben. Es bleibt aber nach wie vor viel zu tun, damit alle, unabhängig ihrer Sexualität und Geschlechtsidentität, selbstbestimmt leben können.

Wie hat sich die Aggression, die Transphobie, in letzter Zeit entwickelt?
Gewalttätige Übergriffe haben sich in den letzten drei, vier Jahren massiv verschärft, es gibt Hate Speech gegen queere Personen in den sozialen Medien. Gemäss Meldungen von LGBTQ-Organisatioen haben sich die Übergriffe im öffentlichen Raum im letzten Jahr sogar verdoppelt. Es sind immer mehr Transpersonen davon betroffen.

Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Sobald bei Emanzipationsschüben bei einer breiteren Masse eine Akzeptanz hergestellt wurde, kann aus historischer Sicht festgestellt werden, dass dies immer einen Teil der Gesellschaft verunsicherte und Gegenreaktionen erzeugte. Das Thema Geschlecht hat viel Sprengkraft, es betrifft uns alle auf eine intime Art und Weise, umso heftiger auch die Reaktionen.

Für viele Kreise nimmt die Genderdiskussion einen zu grossen Stellenwert ein. Es handelt sich immerhin um eine Minderheit in der Bevölkerung. Suchen wir Probleme, weil wir keine grösseren mehr haben?
Ein interessantes Argument, es kommt grösstenteils aus der konservativen Ecke. Es ist ja eigentlich nichts anderes passiert, als dass sich diese Minderheit je länger desto mehr hat emanzipieren können und nun selbstbewusst hinsteht und ein freies Leben beansprucht, wie es viele nicht-queere Menschen auch praktizieren können. Dies machen nun vor allem die Konservativen zum Thema, indem sie zum Beispiel eine Initiative zum Gendersternchen-Verbot lancieren. Eine Partei, die sich Freiheit auf die Fahne schreibt, sollte doch den Gebrauch dieses Sternchens allen freistellen. Da gibt es tatsächlich gröbere Probleme auf der Welt.

Was müsste Ihrer Ansicht nach geändert werden?
Die Hetze muss aufhören. Es kann nicht sein, dass sogar Bundesräte – wie Ueli Maurer im Dezember 2022 – öffentlich verkünden, dass non-binäre Personen nichts in der Politik zu suchen hätten oder dass ein geplanter Gender-Tag in der Schule Stäfa wegen Drohungen gegen die Lehrpersonen abgesagt werden muss. Da müssen klare Grenzen gesetzt werden. Das sind besorgniserregende Tendenzen. Ich plädiere weiter dafür, dass wir alle etwas gelassener umgehen mit dem Thema und die eigenen Un­sicherheiten anerkennen, einander zuhören und voneinander lernen und versuchen, die Emotionalität herunterzuschrauben. Das ist etwas anstrengend, würde aber vielen helfen. Weiter gibt es strukturelle Hürden.

Welche?
Es braucht eine Erweiterung der Diskriminierungsstrafnorm auf die Kategorie Geschlechtsidentität und eine offizielle Anerkennung der Geschlechtervielfalt über «Mann» und «Frau» hinaus, wie sie beispielsweise in Deutschland und Österreich bereits eingeführt ist. Weiter sollten Gewalt-Übergriffe gegen queere Menschen, sogenannte Hate Crimes, statistisch erfasst werden, damit wir Fakten haben und gezielt Massnahmen ergreifen können. Um Unsicherheiten abzubauen, ist permanente Aufklärung in Schulen unerlässlich, denn Unsicherheit hat oft mit Unwissen zu tun.

Peter Widmer

PERSÖNLICH

Ursina Anderegg, geboren 1981, wuchs in Ehrendingen AG auf. Nach dem abgeschlossenen Studium in Schweizer Geschlechter-Geschichte an der Uni Bern absolvierte sie ein Praktikum bei der Stadt Bern. Seit 2012 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Chancengleichheit in der Uni Bern tätig. Ursina Anderegg wohnt mit ihrer Partnerin in Bern.

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