Städte entwickeln sich. In welche Richtung und aus welchen Gründen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich JeanDavid Gerber im Geographischen Institut der Universität Bern seit acht Jahren. Wir blicken ihm in diesem Gespräch über die Schulter.
Herr Gerber, beschreiben Sie uns bitte in wenigen Worten Ihre Tätigkeit!
Jede Professur hat zwei Aufgaben: Forschung und Lehre. Bei uns beschäftigt sich die Forschung hauptsächlich mit Bodenpolitik und Wohnungspolitik in der Schweiz, aber auch mit der Landnutzung in Afrika. Die Lehre befasst sich vorwiegend mit der Raumentwicklung und mit der Raumplanung.
Seit April 2020 beschäftigen Sie sich mit einem vierjährigen Forschungsprojekt über verdichtetes Bauen in Städten. Worum geht es dabei?
Hier geht es um die Auswirkungen der Verdichtungsziele auf die Stadtentwicklung. Besonders interessant ist dabei die Frage der sozialen Nachhaltigkeit von Verdichtung. Im Projekt stellen wir den Vergleich an zwischen der Region Bern und der Provinz Utrecht in den Niederlanden.
In den letzten Jahrzehnten ist der Wohnflächenbedarf pro Person gestiegen…
Das ist richtig. Seit den 1950er-Jahren hat sich die Wohnfläche pro Person beinahe verdoppelt. Die Verdichtungsziele im Raumplanungsgesetz sehen vor, dass mehr Menschen auf der gleichen Fläche sollten leben können, um so auch weniger Ressourcen wie Energie oder Boden pro Kopf zu verbrauchen. Wir können das Rad der Zeit aber nicht mehr zurückdrehen. Es geht nun darum, die Herausforderung der Verdichtungsziele auf engem städtischem Raum umzusetzen. Dieses Problem ist sehr komplex und nicht einfach zu lösen.
Ist es heute vertretbar, wenn bloss zwei Personen in einer Vierzimmerwohnung auf 95 m2 leben?
Familien mit Kindern haben oft zu wenig Wohnfläche. Hingegen leben nicht selten ältere Menschen in grösseren Wohnungen, wenn die Kinder ausgezogen sind. Da die Mietpreise in Städten stetig wachsen, ist aber eine kleinere Wohnung dort oft gleich teuer oder teurer. Der Anreiz, die Wohnung zu wechseln, fehlt. Es gibt also durchaus strukturelle Gründe, die dazu führen, dass gewisse Leute mehr Platz haben als sie benötigen. Es müssten Anreize gefunden werden, die gegen diese Marktmechanismen wirken. Wenn wir uns die Frage stellen, in welche Richtung sich eine Stadt entwickeln soll, muss das Problem des Wohnungsmarktes auch untersucht werden. Verdichtetes Bauen – und das ist auch das Ergebnis unserer Forschungsprojekte – ist zwar gut für die Umwelt, aber vor allem auch für die Wirtschaft. Obwohl die Einführung von Verdichtungszielen früher gerade bei Investoren als eine Einschränkung wahrgenommen wurde, ist Verdichtung heute zum Business geworden. Das gibt Probleme in den sozialen Dimensionen.
Wie meinen Sie das?
Meist wird dort verdichtet, wo es hochrentabel ist und die Risiken für die Investoren möglichst gering sind. Verdichtung ist teilweise auch eine gezielte Strategie, um die Mieten erhöhen zu können, zum Beispiel über Ersatzneubauten oder energetische Sanierungen, welche getätigt werden, obwohl die Bausubstanz noch in gutem Zustand wäre. Den bisherigen Mietenden wird gekündigt, um die Objekte total zu sanieren und mit höheren Mietzinsen neu vermieten zu können. Gegen den Trend, dass Menschen wegen sprunghaften Mietzinserhöhungen vertrieben werden, muss die Wohnbaupolitik angehen. Sonst führt die daraus resultierende Verteuerung der Lebenskosten in der Stadt zu einer Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung in den einzelnen Quartieren. Dieses Phänomen zu verstehen und zu beschreiben ist eines unserer Forschungsthemen.
In der Schweiz gibt es zurzeit einen hohen Leerwohnungsbestand, aber nicht in der Stadt, wo die Menschen leben möchten, sondern auf dem Land. Trotzdem wird munter weitergebaut. Was läuft hier schief?
Ja, das ist ein bekanntes Problem in der Raumplanung. Aber wir sind in unserem Land föderalistisch organisiert, jede Gemeinde will ihre eigenen Baureserven haben. Man muss sich die Frage stellen, ob es legitim ist, dass beispielsweise alle Gemeinden gleichzeitig und parallel die gleiche Strategie verfolgen bezüglich Baureserven, Bau von Mehrzweckhallen, Schulhäusern usw. Die Koordination muss auf der nächsthöheren Ebene, dem Kanton, stattfinden.
Der Boden in der Schweiz ist ein knappes Gut. Sehen unsere Städte in mehreren Jahren aus wie Hongkong oder Singapur?
Nein, das glaube ich nicht. Die Geschichte der Raumplanung in der Schweiz ist von einer gewissen Stadtfeindlichkeit geprägt. Das Raumplanungsgesetz besteht erst seit 1979. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in unserem Land keine Planungseuphorie wie in anderen europäischen Ländern. Hochbauten wie in Hongkong entsprechen nicht unserem Verständnis der Raumentwicklung. Auch glaube ich nicht, dass Hochhäuser die nachhaltigste Lösung sind, viele Studien belegen eher das Gegenteil.
Sind die Zeiten des freistehenden Einfamilienhauses mit Umschwung vorbei?
Die Entwicklung geht tatsächlich in eine andere, eben verdichtete Richtung. Wenn die Baulandreserven am falschen Ort sind, sollten sie reduziert werden. Die Raumentwicklung ist in einer Zeit entstanden, als die Entwicklung nach aussen die Norm war. Eine offene Frage ist, ob die Raumplanung die Entwicklung nach innen planen kann. Es ist viel schwieriger, die Verdichtung zu planen als die grüne Wiese! In den Städten gibt es die unterschiedlichsten Interessen mehrerer Player zu berücksichtigen. In der Schweiz sind zudem die Eigentumsrechte stark geschützt, was die Umsetzung der Verdichtung für die öffentliche Hand schwierig macht.
Geht der Wohntrend heute vom Land weg wieder zurück in die Stadt?
Ja, seit 20 Jahren ist dieser Trend festzustellen, die Stadt als Wohnraum ist sozusagen wiederentdeckt worden. Die Nachfrage ist sehr hoch, alle wollen in die Stadt, aber es gibt kaum Anreiz für bauliche oder soziale Qualität, da Mietende immer zu finden sind. Die Städte müssen dichter werden, aber wie kann man verdichten, ohne die Menschen zu vertreiben durch die steigenden Preise? Wie schafft man Lebensqualität, damit sich die Leute wohlfühlen? Diese Fragen treiben uns um und sind nicht einfach zu beantworten.
Wurden Sie als Wissenschaftler beim – lange umstrittenen – Wohnbauprojekt Viererfeld in Bern in der Projektphase beigezogen?
Nein, wir erstellen am Geographischen Institut keine Pläne, wir untersuchen die Stadtentwicklung aus der Perspektive der Sozialwissenschaft. Wir versuchen zu verstehen, welche Kräfte eine Rolle spielen, wer sich durchsetzen kann und warum sich die Stadt in eine bestimmte Richtung verändert. Die Städtebauer und Architekten hingegen sind normativ tätig, sie realisieren städtebauliche Projekte. Ich weiss nicht, wie die Stadt Bern in zwanzig Jahren aussehen wird, das wissen diese Fachleute. Ich versuche lediglich zu verstehen, wie die Stadt entsteht.
Wem dienen denn die Ergebnisse Ihrer Forschungsprojekte?
Unsere Studierenden profitieren am meisten davon. Viele arbeiten nach abgeschlossenem Studium bei der Stadt, beim Kanton, in Planungsbüros. Auf diese Weise bringen die ausgebildeten Geographen und Geographinnen ihre Kenntnisse zur Stadtentwicklung in die Praxis ein, was sich in Bauprojekten niederschlägt. Unser Institut tauscht sich regelmässig mit Bundesämtern aus, man trifft sich an wissenschaftlichen und wohnpolitischen Podien, wo wir uns einbringen können.
Peter Widmer