Livia Anne Richard ist mit ihren Themen am Puls der Zeit. Nicht zuletzt deswegen erhielt die Berner Regisseurin letzte Woche den Kulturpreis der Bürgi-Willert-Stiftung. Nun steht mit «Abefahre! – Stressfrei in 5 Tagen» eine Uraufführung aus der eigenen Feder auf dem Programm, das unser Hamsterrad auf humorvolle wie nachdenkliche Weise beleuchtet.
Erst Regen, dann strahlender Sonnenschein. So ist es beim Besuch auf dem Güsche vor den Proben zu Richards neuem Streich «Abefahre!» Die Sonne ist ein wichtiger Faktor für das Theater Gurten, das mit seiner 10. Freilicht-Produktion auf dem Berner Hausberg aufwartet. Die Regisseurin sitzt im Freien vor dem Tapis Rouge. Bei der Begrüssung fällt auf, dass etwas fehlt. Es handelt sich um Livia Annes Markenzeichen, ihren schwarzen Hut. Die Künstlerin lacht und fasst gleichzeitig ins Leere über ihrem Kopf. «Der Hut ist eine Art Schutzhelm, wenn ich ihn trage, bin ich am Abend weniger ausgelaugt.»
Wenn «Burnout» schwebt
Es scheint, als wäre ihr neues Theaterstück «Abefahre!» zugleich Therapie. Waren Sie selber schon mal ausgebrannt, Frau Richard? Die Künstlerin, die auf dem Gurten mit «Dällebach Kari» und in Zermatt mit «The Matterhorn Story» Grosserfolge feierte, ist bis ins Jahr 2022 ausgebucht. Die energiegeladene Endvierzigerin verneint in Wort sowie Gestik und erzählt eine Geschichte. «Ich war an einem Strand in Florida und suchte in einer Sandburg Schutz vor dem Wind. Als ich aufs Meer blickte, sah ich das Wort ‹Burnout› darüber ‹schweben›.» Die Intuition zieht sich bei Livia Anne Richard wie ein roter Faden durchs Leben. Wenn es im Bauch kribbelt, handelt sie. So war es beim Theater Matte im Berchtoldshaus, das sie im 2010 zusammen mit Markus Maria Enggist, Annemarie Morgenegg, Fredi Stettler und Hank Shizzoe gründete und so hielt sie es nach sechs erfolgreichen Jahren, als sie die Leitung an Kollegin Corinne Thalmann abgab, um mehr Zeit zu haben, eigene Stücke zu schreiben. Wie schreibt man ein Stück über Burnout-Prävention, wenn die Erfahrung fehlt? Die Bernerin relativiert: «Ich kenne das Gefühl, wenn die Batterien leer sind, aber ich habe stets die Notbremse gezogen.» Richard wäre nicht Richard, würde sie sich nicht intensiv mit dem Stoff, der sie umtreibt, auseinandersetzen. «Ich habe Fachleute interviewt und Anti-Stress-Seminare besucht. Ich bin zum Schluss gekommen, dass die Existenz dieser Kurse Teil des Problems sein können, wenn Firmen ihre Mitarbeiter nur mit der Absicht dorthin schicken, damit sie voll aufgeladen zurückkehren und noch effizienter werden.
System vor dem Shutdown
Das Mantra der Kursleiter im Stück ist klar umfasst, es könnte auch Richards Echolot sein: «Ich gehe arbeiten, weil ich wertvoll bin!» Der unheilvolle Gegenentwurf scheint mehr Menschen umzutreiben. Er lautet: «Ich gehe arbeiten, damit ich wertvoll bin.» In «Abefahre!» müssen die Protagonisten für eine Woche ihre Handys abgeben und fasten, einen Selbstversuch hat Livia Anne Richard in beiden Punkten nicht gemacht. Das Thema der neuen Gurten-Produktion hat doch persönliche Gründe: «Nach der anspruchsvollen Arbeit für das erste Stück am Matterhorn hatte ich Gedächtnisstörungen, mein System befand sich kurz vor dem Shutdown. Das hat mir die Augen geöffnet. Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich anders arbeiten wollte.» Eine 180-Grad-Wendung geht nicht über Nacht, Richard lächelt und antwortet: «Ich habe mir beigebracht, möglichst oft im Hier und Jetzt zu sein. Es scheint absurd, aber seit ich das tue, habe ich das Gefühl, mehr Zeit zu haben.»
«Weil sich jeder entblättert»
Haben die Anti-Stress-Seminare doch Spuren hinterlassen? Richard winkt ab: «Nein. Aber für mich als Theaterautorin waren sie ein ‹Steilpass›. Die Rollenspiele in einigen Übungen sind köstliches Theater im Theater. Weil sich jeder entblättert, geht das ganz schön in die Tiefe. Den Moralfinger wird man in «Abefahre!» vergebens suchen, Livia Anne Richard will vielmehr eine zunehmende Problematik beleuchten: «Viele Leute in meinem Umfeld haben die Schnauze voll vom wachsenden Druck in unserer Hochleistungsgesellschaft. Es kann einen jederzeit wegfegen und dann nützt die Bucket List für die Zeit ab 65 auch nichts mehr. Ich finde, es wird Zeit für das Motto ‹Weniger isch meh› und es braucht Mut, die nötigen Konsequenzen zu tragen.»
Peter Wäch