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«Viele verstehen die Sprache der Linken nicht mehr»

Dass die Partei Wähleranteile verliert, habe sie sich teils selbst zuzuschreiben, sagt SP-Urgestein Rudolf Strahm. Im Interview kritisiert er auch die aus seiner Sicht «grotesken Auswüchse» der Gender-Bewegung.

Rudolf Strahm, die «NZZ» nannte Sie jüngst das «Orakel von Bern» und meinte, Sie seien mit Ihrer Partei «in ewiger Dissonanz» verbunden.
Ich geniesse die Narrenfreiheit eines Veterans und muss keine Rücksicht mehr nehmen auf eine Fraktion oder sonstige Gremien. Deshalb erlaube ich mir, abweichende Meinungen zu äussern, was die Parteileitung hie und da nervt. Verfeindet mit der Partei bin ich natürlich nicht. Mein Ja zur AHV-Reform etwa hatte ich der SP-Führung zuvor mitgeteilt. Ich fühle mich nicht als Aussenseiter.

Trotzdem: Sie provozieren gern.
(Energisch) Nein! Das behaupten Sie! Bei der AHV-Reform konnte ich den Widerstand gegen ein höheres Rentenalter zwar nachvollziehen – nicht aber, dass auch eine höhere Mehrwertsteuer madig gemacht wurde. Selbst wenn die AHV anders saniert worden wäre: Um eine Erhöhung der Mehrwertsteuerprozente kommt man nicht herum. Das hat mich geärgert. Die Parteileitung hatte wirtschaftspolitisch den sozialdemokratischen Kompass verloren. Ich überlege mir jeweils genau, ob ich etwas Bestimmtes sagen soll oder es bleiben lasse.

Was Ihre Partei ebenfalls kaum gerne hören dürfte: Die Sozialdemokraten scheinen sich immer stärker von den «kleinen Leuten», für die sie eigentlich einstehen wollen, zu entfremden. Flugticketabgaben mögen gut fürs Klima sein, sind für Geringverdiener hingegen alles andere als sozial.
Als ehemaliger Parteisekretär verfolge ich die tragische Entwicklung der SP mit Schmerzen. Seit 2003 hat die SP bei sämtlichen nationalen Wahlen stets Stimmenanteile verloren. Ihre Aussage halte ich nur teilweise für berechtigt: In der konkreten Politik – Soziales, Steuern, Konsumentenschutz – vertritt die heutige SP durchaus die sozialdemokratische Programmatik.

Aber?
Auf Ebene der Identitäten und der Symbolik fand eine Entfremdung mit grossen Teilen der SP-Wählerschaft statt. Viele können sich mit der Sprache der linken Intellektuellen kaum mehr identifizieren. Helmut Hubacher prägte den Satz: «Vom Hörsaal in den Ratssaal.» Da wird teilweise eine sehr abstrakte, akademische Sprache verwendet. Manchmal entsteht der Eindruck, diese Exponentinnen und Exponenten hätten noch nie in der Berufsarbeit gestanden. Nicht im Sinne von: Die sind faul. Sondern den jungen Berufspolitikern fehlt sichtbar die lebensweltliche Erfahrung. Zudem spielen Trends wie die Migrations- und Ausländerpolitik nicht gerade zugunsten der SP.

Wie meinen Sie das?
Schauen Sie nach Italien, Frankreich oder Schweden. Dort implodierte die Sozialdemokratie regelrecht. Massgeblich war die Migrationsfrage. Das hängt mit Identitätsverlusten zusammen, mit dem Gefühl, die Heimat zu verlieren. Auch in der Schweiz wird die Linke für die Migrationsprobleme verantwortlich gemacht. Hinzu kommt die grüne Konkurrenz in der Klimapolitik.

Muss die SP überhaupt grün sein? Sie könnte ja für eine sozialverträgliche Umweltpolitik einstehen.
Der Grossteil der SP-Wählerschaft steht wohl hinter der gegenwärtigen Klimapolitik. Die Klimaschutzdebatte erreichte durch den Greta-Effekt der Jahre 2018 und 2019 eine gewisse Breite und nahm die Sozialdemokratie bis weit in die Mitte hinein mit. Seither machte die Klimabewegung aber eine Radikalisierung durch, hin zu einer Weltrettungsmentalität, basierend auf apokalyptischen Untergansszenarien. Der «Notstand» wurde ausgerufen.

Auch von der Stadt Bern.
Auch. Nur verstanden wir Älteren unter Notstand etwas ganz Anderes (lächelt). Das Wiederaufbäumen der Klimabewegung war insgesamt erfreulich – wir diskutierten ja bereits in den 90ern über CO2. Doch in jeder Bewegung steckt die Gefahr, dass radikalisierte Fundamentalisten die Deutungshoheit übernehmen. Heutige Ausprägungen wie «Renovate Switzerland» oder «Extinction Rebellion», bei denen kaum mehr als ein paar Dutzend akademische Aktivisten teilnehmen, sind eher kontraproduktiv. Wenn ich kurz aktuell werden darf …

Bitte.
Die Aktivistinnen und Aktivisten, die sich im Wankdorf neulich auf der Autobahn anklebten, würde ich nicht mit Bussen bestrafen, sondern der Richter sollte sie zu zehn Tagesarbeitssätzen bei einem Solarpanelmonteur oder Fassadenisolateur verknurren. Damit sie sehen, was Dekarbonisierung im praktischen Alltag bedeutet. Jeder Wärmepumpeninstallateur trägt jedenfalls mehr zum Klimaschutz bei als die genannten Aktivisten.

Ein ehemaliger SP-Gemeinderat zeichnete einmal folgendes Bild: Eine Schweiz, die den Klimawandel stoppen will, ist in etwa das Gleiche, wie der Versuch, mit einer Wasserpistole ein brennendes Haus zu löschen.
Eine karikierende Aussage, doch sie stimmt im Kern schon. Diese Person sprach wohl damit auch die von mir angetönte Weltrettungsmentalität an. Den Notstand auszurufen, hat eine moralisierende Tendenz und viele Menschen verstehen das nicht mehr.

Sie sagten vorhin, jede Gruppierung habe in ihrem Ursprung ihre Berechtigung, würde sich dann aber radikalisieren. Ähnliches passiert doch gerade mit der Woke-, Cancel-Culture- und Black-lives-Matter-Bewegung.
Ich bin ein 68er. Eine Epoche, die historisch bejubelt wird und die selbstverständlich Wirkung zeigte. Nach der geistigen Enge des Zweiten Weltkriegs herrschte Aufbruchsstimmung. Aber schon 1970 war die Bewegung gespalten in Trotzkisten, Maoisten, Hippies, Sozialdemokraten. Die einen versanken im Fundamentalismus, die übrigen gingen den langen Weg durch die Institutionen. Ja, jede soziale Bewegung hat fundamentalistische Auswüchse, sei es die Gender-, MeToo- oder Black-lives-Matter-Bewegung. Soziale Medien spielen hier eine elementare Rolle. Viele ihrer Mitglieder schwimmen in einer Meinungsblase: Man bestärkt sich gegenseitig in der eigenen Haltung, und diese radikalisiert sich dadurch wiederum.

Vor allem dulden einige gar keinen Widerspruch mehr. Schliesslich steht man ja für das Gute ein.
Ich verteufle die Gender- oder die Woke-Bewegungen nicht. Doch sie weisen teilweise groteske Auswüchse auf. Ich zeigte das in meinem Zeitungskommentar am Beispiel des Schulhauses Wyler auf.
Sie reden von der alten Wandbemalung mit der Abbildung stereotyper Personengruppen, die «gecancelt» wurde. Das Bild entstand 1948: Die beiden Künstler wollten darauf aufmerksam machen, dass neben Europa eine weite Welt existiert. Sie zeichneten einen Chinesen, einen Indianer …

… und beim «N» war ein schwarzer Afrikaner abgebildet.
Genau. Ein «Neger», so benannte man sie damals arglos. Der Berner Gemeinderat wusste, welche Kreise das Bild übermalten. Aus lauter Mutlosigkeit und Opportunismus verzichtete er allerdings auf eine Strafanzeige gegen unbekannt. Die Aktion wurde toleriert, weil angeblich ethische Motive dahintersteckten. Das sind Auswüchse von Jakobinern, die aus meiner Sicht inakzeptabel sind. Allerdings spielen auch die Medien hier eine bedeutsame Rolle, indem sie bestimmte Vorfälle hochstilisieren.

Wie beispielsweise den Eklat in der Brasserie Lorraine?
Ich muss gestehen, dass ich seit Anbeginn Genossenschafter der Brass bin. Die Geschichte mit der «kulturellen Aneignung» war gewiss ein Betriebs-
unfall. Produktiv war danach wiederum, wie breite Kulturkreise und Medien sich klar davon distanzierten. Das war ein Fingerzeig gegen die Gedanken- und Gesinnungspolizei, die höchst illiberal agiert. Ein Skandälchen mit Reflektionseffekt.

Apropos Gesinnungspolizei: Der Vorwurf der Rechten, die meisten Medien würden einseitig berichten, wird immer lauter. Nicht nur von «Weltwoche»-Chef Roger Köppel.
Ja, man berichtet einseitig. Gerade die SRG sollte keinen linksliberalen Woke-Mainstream fördern, der dann bei der nächsten Gebührenabstimmung negativ auf sie zurückschlägt. Einzig: Ich störe mich am Wort «links». Sind die extrem Woken überhaupt noch links? Links zu sein bedeutet, Rücksicht auf die schwächeren sozialen Schichten zu nehmen. Doch hier handelt es sich vielmehr um psychologische Selbstinszenierung.

Halten Sie Aktionen wie jene von Tamara Funiciello bei der Heiliggeistkirche einen Tag nach dem Ja zur AHV-Reform für legitim? Man wirft der SVP Populismus vor und zieht dann genau die gleichen Register. Mit solchen Auftritten tut sich der Feminismus keinen Gefallen.
In der WG, in der ich aufgewachsen bin, existierte eine feministische Aufbruchsbewegung, die ich verstand. Die Benachteiligung der Frauen in der Arbeitswelt ist eine Tatsache, sie ist allerdings gerade nicht bei der AHV. Persönlich finde ich die Sprache von Frau Funiciello eher kontraproduktiv. Sie muss aufpassen, keine Bürgerschreckin zu werden.

Das ist sie wahrscheinlich bereits.
Jedenfalls findet die breite SP-Wählerschaft in dieser Sprache ihre Identität nicht mehr. Gesinnungspolizistinnen sind eine Belastung für die Partei. Wer am lautesten ausruft, kommt in die Schlagzeilen. Ganz nach dem Motto: Leg dich quer, so bist du wer. Ich würde sogar vermuten, dass sich der Abstimmungskampf gegen die AHV-Reform mit seinem anklagenden Stil gegen die «weissen alten Männer» kontraproduktiv ausgewirkt haben könnte.

Was raten Sie Ihrer SP, um wieder erfolgreich zu sein?
Jüngere Parteivorsitzende hören es weniger gern, wenn ihnen Veteranen besserwisserisch etwas vormachen wollen (lacht). Für den nächsten Wahlkampf würde ich eine Strategie à la Olaf Scholz in Deutschland vorschlagen: Im Wahlkampf die Gender-, Flüchtlings- oder Rassismusfragen – Themen also, die die Meinungen bloss spalten und nur Intellektuelle mobilisieren – auf Eis zu legen. Scholz warb mit «14 Euro Mindestlohn» und «Arbeitsplätze für den Klimaschutz»; mit Forderungen also, die die Bevölkerung versteht und die ihre Lebenswelt tagtäglich betreffen.

Yves Schott

Rudolf Strahm, geboren am 3. August 1943 in Lauperswil, ist studierter Ökonom. Er war 13 Jahre lang Nationalrat der SP (1991 bis 2004) und amtete von 2004 bis 2008 als Preisüberwacher. Er hält noch heute Vorträge an mehreren Schweizer Universitäten und schreibt Kolumnen, unter anderem für den «Bund». Strahm ist ledig, hat einen Sohn und lebt in Herrenschwanden.

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