Spätestens 2050 muss die Schweiz CO2-neutral sein, mahnt Klimaforscher Thomas Frölicher von der Uni Bern. Am meisten Sorgen bereitet ihm der Schweizer Verkehr.
Thomas Frölicher, ich fliege am nächsten Wochenende nach Wien, um einen Freund zu besuchen. Ist das böse?
Böse nicht, aber unvernünftig. Europäische Städtetrips würde ich mit dem Zug statt mit dem Flugzeug unternehmen.
Darf man denn aus Ihrer Sicht generell noch ruhigen Gewissens fliegen und mit dem Auto einen Roadtrip durchführen?
Es ist nicht so, dass ich selber gänzlich aufs Fliegen verzichte. Für Forschungsreisen ausserhalb Europas bin ich ebenfalls auf das Flugzeug angewiesen. Beim Reisen geht es ja nicht zuletzt um den Austausch mit anderen Kulturen und um Wissen zu generieren. Dennoch sollten wir versuchen, nachhaltig zu reisen und die Fliegerei auf das Nötigste zu reduzieren. Verkehrsmittel mit erneuerbaren Energien auswählen statt mit Verbrennungsmotor.
Unsere Anstrengungen laufen doch ins Leere, solange China nach wie vor im grossen Stil Kohlekraftwerke und Flughäfen hochzieht.
Im Pariser Klimaabkommen hat man sich auf eine Begrenzung der Klimaerwärmung auf deutlich unter 2 Grad geeinigt. Dies bedingt, dass die Nettoemissionen von CO2 auf Null reduziert werden müssen. Dieses Ziel wurde auch von der Schweiz ratifiziert. Das heisst, auch bei der Schweiz muss die Null bis spätestens 2050 stehen. Aber klar: China ist derzeit weltweit der grösste CO2-Emittent. Pro Kopf wiederum stehen wir Schweizerinnen und Schweizer mit 5,5 Tonnen CO2-Äquivalenten* Treibhausgasemissionen pro Jahr nicht gut da. Und dies sind nur die im Inland produzierten Emissionen.
In der EU hat der CO2-Ausstoss im Jahr 2019 im Vergleich zu 1990 um rund 25 Prozent abgenommen, während er in China oder Indien explosionsartig steigt. Sprich: Europa hat seinen Job gemacht.
In der Schweiz beträgt der Rückgang seit 1990 14 Prozent. Das ist gut, aber 14 Prozent innerhalb von 29 Jahren ist ungenügend. Wollen wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, müssen wir bis spätestens 2050 auf Netto Null runter. Bleiben wir bei diesem Schneckentempo, sind wir in 30 Jahren erst bei minus 30 Prozent. Ähnliches gilt für Europa. Und noch etwas…
Bitte.
Bei den genannten 14 Prozent handelt es sich um rein inländische Emissionen. Wir kaufen jedoch bekanntermassen auch Güter im Ausland ein, was sogenannt graue Emissionen verursacht. Werden diese miteinbezogen, ist in der Schweiz kaum ein CO2-Emissionsrückgang feststellbar. Wir sind also nicht gut unterwegs. Abgesehen davon war die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zum letzten Mal vor 2,5 Millionen Jahren so hoch wie heute. Vielen Leuten ist nicht bewusst, wo wir momentan hinsteuern.
Sind Sie froh um kritische Stimmen innerhalb der Wissenschaft?
Sie werden immer seltener. Der neueste Bericht des Weltklimarats zeigt klar: Der Mensch ist hauptverantwortlich für die globale Erwärmung. Natürliche Schwankungen wie der Einfluss der Sonne oder Vulkaneruptionen haben seit der Industrialisierung zu keiner nennenswerten Temperaturänderung geführt. Die Faktenlage ist eindeutig.
Was kann Bern im Kampf gegen den Klimawandel tun?
Städte wie Bern können einen wichtigen Beitrag zu den Pariser Klimazielen leisten. Insbesondere das Heizen und Kühlen von Räumen benötigt viel Energie. Verbundwerke, Fernwärme, aber auch verdichtetes Bauen und die Umstellung auf erneuerbare Energien können viel bewirken. Das passiert teilweise ja bereits.
Generell ist der Strombedarf in den letzten Jahren massiv gestiegen, unter anderem wegen Computern und TV-Boxen. Die industrielle Produktion trägt ebenfalls zum Klimawandel bei.
Von den gesamten Treibhausgasemissionen wird in der Schweiz 32 Prozent vom Verkehr verursacht, je 24 Prozent durch Gebäude und Industrie. Die Verkehrsemissionen sind in der Schweiz in den letzten 30 Jahren ziemlich konstant geblieben. Erst seit den letzten Jahren gehen sie leicht zurück. Insofern bereitet mir der Verkehr in der Schweiz mehr Sorgen.
Braucht es mehr Elektroautos?
Ja. Und der öffentliche Verkehr sollte noch mehr gefördert werden.
2019 rief die Stadt Bern den Klimanotstand aus. Was löste das bei Ihnen aus?
Ich fand das ein wichtiges politisches Zeichen. Denn das Klima ist in Not. Die Extremereignisse nehmen zu, die Schneefallgrenze steigt an, die Gletscher schmelzen.
Wir haben einen kühlen Sommer und einen schneereichen Winter hinter uns. Waren das Einzelphänomene?
Es gab und wird auch zukünftig immer wieder kühlere Sommer und nässere Winter geben. Diese kommen aufgrund der natürlichen Variationen im Klimasystem zustande. Im letzten Winter fiel einiges an Schnee, das stimmt. Der Sommer andererseits war gar nicht so kühl: Die Temperatur lag um 0,5 Grad über dem langjährigen Schweizer Mittel von 1981 bis 2010. Starke Hitzewellen blieben in der Schweiz aus, aber trotzdem war der Sommer wärmer als normal. Länder wie Griechenland oder Kanada erlebten in diesem Sommer übrigens extreme Hitzeperioden. Fakt ist: In der Schweiz stieg die Temperatur seit 1850 um etwa 2 Grad an – das ist doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt.
Was bereitet Ihnen in Zusammenhang mit dem Klimawandel am meisten Sorgen?
Der Meeresspiegel. Selbst wenn es uns gelingt, die Temperatur zu stabilisieren, wird er weiter ansteigen. Folgen wir dem 1,5-GradSzenario, steigt der Meeresspiegel bis im Jahr 2100 um weitere 50 Zentimeter an.
Klingt nicht sehr dramatisch.
Mag sein, aber wir reden hier vom optimalen Szenario. 200 Jahre später, bei weiterhin 1,5 Grad Erwärmung, ist es bereits ein zusätzlicher Meter. Nehmen wir ein Erwärmungsszenario von 4 oder 4,5 Grad an, steigt der Meeresspiegel bis 2100 einen weiteren Meter an, bis 2300 um drei bis fünf Meter. Jene, die nahe am Wasser wohnen, haben kaum eine Chance, Anpassungen zu treffen.
Was ist mit pragmatischen Lösungen wie riesigen Staubsaugern, die das CO2 aus der Atmosphäre pumpen?
Solche Technologien halte ich für absolut unterstützenswert. Damit können wir allerdings nur zu einem kleinen Teil etwas gegen den Klimawandel ausrichten. Es führt kein Weg daran herum, die fossilen Brennstoffe zu ersetzen.
Emissionsarme oder sogar emissionsfreie Autos, Fleisch aus dem Labor: Die Zukunft bietet Chancen – und so futuristisch sind diese Technologien gar nicht.
Absolut. Nur wurde im Innovationsland Schweiz offensichtlich das Potenzial noch zu wenig erkannt oder gefördert.
Was erhoffen Sie sich von der Klimakonferenz in Glasgow?
Meine Erwartungen sind gering. Ich lasse mich allerdings gerne positiv überraschen. Bei diesen Konferenzen wurde in den letzten Jahren viel geredet, die Resultate fielen eher bescheiden aus. Das heisst nicht, dass diese Treffen unwichtig sind. Schliesslich ging aus einem dieser Treffen das Pariser Klimaabkommen hervor. Persönlich halte ich den Gipfel für aufgebläht. Es ist die Rede von 39 000 registrierten Personen. Das liesse sich wohl auch in einem kleineren Rahmen abhalten. Sie können sich das in etwa so vorstellen wie eine riesige BEA (lacht). Mit Ausstellungen etc. Die wichtigen Entscheidungen werden hingegen im Hintergrund getroffen.
Wo würden Sie, wenn Sie entscheiden dürften, als Erstes den Hebel ansetzen?
Global betrachtet: sicher keine Kohlekraftwerke mehr bauen.
Was wäre für Sie ein gutes Abschlussabkommen?
Wenn verbindliche Ziele vereinbart werden. Zum Beispiel: Die CO2-Emissionen müssen bis 2030 halbiert werden. Das wäre massiv besser als bloss eine Absichtserklärung.
Was können Bernerinnen und Berner im Alltag tun, um klimafreundlicher zu leben?
Weniger autofahren und wenn, dann mit einem elektrischen Auto. Weg von der Ölheizung, weniger fliegen, lokal einkaufen, den Konsum von tierischen Produkten reduzieren. Es gibt viele Massnahmen. Aber wir müssen uns nichts vormachen. Die Eigenverantwortung wird nicht ausreichen. Es braucht deshalb die nötigen politischen Rahmenbedingungen, damit alle mitmachen und die Investitionen fliessen.
Gehen Sie manchmal frustriert ins Bett angesichts dessen, was sich auf der Erde abspielt?
Teilweise, ja. Ich bin vor allem um meine Kinder besorgt, die die Konsequenzen tragen müssen.
Yves Schott
*Äquivalent: alle Treibhausgase in eine Einheit umgewandelt: unter anderem CO2, Methan und Lachgas.