Auch die letzte Reise verändert sich. Das zeigt ein Rundgang auf dem Bremgartenfriedhof. Nein, der Tod schläft fast nie – gestört wird er höchstens mal von ungewöhnlich freizügigen Zeitgenossen.
Minus drei Prozent sind es also. Philippe Marti hat die Zahlen schwarz auf weiss. Drei Prozent weniger Menschen sind in der Stadt Bern 2020 im Vergleich zum Vorjahr verstorben. Bis Oktober, bevor die zweite Corona-Welle das Land heimsuchte, betrug die Differenz sogar minus 10 Prozent. Über die Gründe kann nur gemutmasst werden. Vielleicht haben sich die Menschen hier besser an die Abstandregeln gehalten. Oder es gab weniger Unfälle, weil man öfter zuhause blieb. Aber Übersterblichkeit wegen Covid-19? Nicht in der Hauptstadt.
Unter anderem deswegen kann Marti, Bereichsleiter Friedhöfe und Stadtgärten, auch nicht von bewegenden Familiendramen berichten. Fälle, in denen Menschen nicht von ihren Liebsten Abschied nehmen konnten, weil Totengräber überlastet waren und die Regeln eine persönliche Abdankung schlicht verunmöglichten. «Szenen wie in Bergamo erlebten wir hier zum Glück nie.»
Sicherlich, für die Bestatter bedeutete und bedeutet Corona nach wie vor eine massive Herausforderung. «Sie schminken die Verstorbenen, haben engen Kontakt zu ihnen. Trotz dieser schwierigen Umstände waren pietätvolle Trauerfeiern jederzeit möglich.» Seit Sommer dürfen bis zu 50 Personen an einer Beerdigung teilnehmen. «Das reicht in den meisten Fällen», sagt Marti.
Muschelhörner und Klageweiber
Wir treffen den 48-Jährigen auf dem Bremgartenfriedhof. Das hat mehrere Gründe: Er ist zwar ganz knapp nicht der grösste auf städtischem Grund. Jener in der Schosshalde umfasst 0,4 Hektaren mehr. Doch hier lassen sich die Veränderungen von Gräbern sehr anschaulich zeigen. Und dann wurde hier im November 2019 ja erst noch der Hindu-Abdankungstempel eingeweiht – der erste und einzige seiner Art auf einem öffentlichen Friedhof in ganz Europa.
Zustande kam er dank einer engen Zusammenarbeit mit der tamilischen Hindu-Gemeinschaft Bern und dem Haus der Religionen. Zwei Gottheiten, die sich in dem knapp drei Meter hohen Bau befinden, sollen die Seelen der Verstorbenen erlösen. Marti berichtet von den indischen Tempelbauern, die in Bern an einem kalten Herbsttag mit leichter Sommerkleidung anreisten. Von Totenmessen mit bis zu 500 Teilnehmenden, von Muschelhörnern und Klageweibern begleitet. «Beigesetzt wird die Asche der Verstorbenen nicht vor Ort. Manchmal in der Aare, meist in der Heimat im Ganges.»
Die Hindus sind nur eine von gleich mehreren Weltreligionen, denen der Bremgartenfriedhof Platz für Andacht bietet. Buddhisten finden hier ihre letzte Ruhe, Muslime, Christen selbstverständlich. Einzig jüdische Grabmäler sieht man nirgends. Sie liegen auf dem jüdischen Friedhof an der Papiermühlestrasse, an der Grenze zu Ittigen.
Kann eigentlich jede und jeder dort beerdigt werden, wo er oder sie gerade will? Nein, erklärt Marti. Doch es gibt Ausnahmen. «Ostermundigen beispielsweise hat eine Vereinbarung mit dem Schosshaldenfriedhof, da Ostermundigen selbst keinen Friedhof hat.» Wer zudem auf Berner Boden zu Tode kommt, kann auf Wunsch ebenfalls hier zu Grabe getragen werden. Auswärtige Personen mit Angehörigen in der Stadt oder mit einem persönlichen Bezug zur Stadt Bern dürfen ein Gesuch stellen.
Marti nimmt uns mit zu den Urnenthemengräbern, ganz in der Nähe der Hindu-Stätte. Ihre Bedeutung und Beliebtheit hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. «Zu jeder Urne gehört eine Steinplatte, die die Hinterbliebenen frei nach Wunsch dekorieren dürfen. Der Name der toten Person kann, muss allerdings nicht draufstehen. Mit den 2013 eingeführten Urnenthemengräbern konnten wir sehr gut auf die sich ändernden Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen.»
Diskriminerung verhindern
Die Gräber sind nach verschiedenen Themen sortiert: Duft lautet eines, Schmetterlinge und Rosen andere. 1930 Franken kostet ein solches Grab für insgesamt 20 Jahre – und ist damit deutlich günstiger als das traditionelle Sargreihengrab, das mit 3700 Franken zu Buche schlägt. «Wenn Sie bedenken, dass Sie dann auch noch Bestatter und Grabstein bezahlen müssen, wird eine Beerdigung schnell mal teuer», erklärt Marti.
Moment, Stopp! Natürlich soll die letzte Reise keine Frage des Budgets sein. Was Philippe Marti aber zu Recht anspricht: Für manche Leute bedeutet der Tod tatsächlich eine finanzielle Herausforderung. Das Gemeinschaftsgrab, bei dem die Asche entweder in eine kollektive Gruft, die unter der Erde liegt, oder in einer Rasenfläche beigesetzt wird, ist mit 270 Franken vergleichsweise günstig. Müssen Familienangehörige über die Beisetzung ihrer Verwandten befinden, wird öfter mal gestritten. Nicht selten geht es dabei ums Geld.
Und so versuchen Marti und sein 42-köpfiges Team, möglichst allen Bedürfnissen gerecht zu werden und mit der Moderne Schritt zu halten. Relativ neu sind ausserdem die Gemeinschaftsgräber mit Särgen. Die Stadt Bern bietet somit als eine der wenigen Gemeinden diese spezielle Form der Erdbestattungen mit Särgen an. Analog zu den Urnen gibt es keine Grabzeichen, bedeckt werden sie von einer Wiese mit Blumen. Die Idee dahinter: eine mögliche Diskriminierung von Personen zum Beispiel katholischen Glaubens zu verhindern, die ebenfalls gemeinschaftlich beerdigt werden möchten, traditionellerweise jedoch die Erd- der Feuerbestattung vorziehen.
Ganz generell ist die Kremation die mit Abstand am häufigsten gewählte Form der Bestattung. In 90 Prozent der Fälle wird sie angewandt, sagt die Statistik. Und das bereits seit Jahren. Ein Urnenthemengrab bringt also, von den Kosten einmal abgesehen, einen weiteren Vorteil mit sich: Um die Pflege der Pflanzen kümmert sich die jeweilige Friedhofsgärtnerei. In Zeiten, in denen ein Teil der Verwandtschaft möglicherweise im Ausland lebt und nur selten Gelegenheit hat, die Grabstätte selbst zu besuchen, ein nicht zu vernachlässigender Aspekt.
Unser Rundgang, der mittlerweile schon über eine Stunde dauert, neigt sich dem Ende zu. Wir laufen an Grabsteinen zahlreicher prominenter Figuren vorbei. Mani Matter zum Beispiel, oder Michail Alexandrowitsch Bakunin, der berühmte russische Revolutionär. Hat Marti durch seine tägliche Arbeit weniger Angst vor dem eigenen Tod? «Eine schwierige Frage. Es fällt mir sicherlich leichter, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er wird ein wenig selbstverständlicher.»
Die Sache mit dem Bikini
Was ins Auge sticht: Auffallend viele junge Menschen halten sich an diesem milden Februarnachmittag im Bremgartenfriedhof auf. «Ich finde das schön», stellt Philippe Marti zufriedenstellend fest. «Während des ersten Lockdowns letzten Frühling strömten die Leute regelrecht hierher, weil andere Parkanlagen geschlossen waren. Das zeigt, welchen Stellenwert die Friedhöfe in der Stadt spielen. Auf dem Friedhof Bümpliz trifft sich eine Gruppe älterer Frauen, die sich zuvor noch nicht gekannt hat, regelmässig auf Stühlen zum Austausch. Ein richtiger ‹Dorfschwatz›. So soll es sein!»
Marti erzählt in diesem Zusammenhang von einer jungen Frau, die sich mit Bikini und Badetuch auf dem Bremgartenfriedhof installieren wollte. «In diesen Fällen suchen wir das Gespräch, um zu verhindern, dass andere Friedhofbesucher gestört werden. Friedhöfe sind primär ein Ort der Trauer, des Gedenkens und der Erinnerung, das soll respektiert werden.» Der Tod ist tolerant. Bloss spassen sollte man nicht mit ihm.
Yves Schott