Weihnachten, das Fest der Liebe. Und das der Einsamkeit? Viele fühlen sich gerade an den Festtagen besonders alleine. Der Bärnerbär hat recherchiert und herausgefunden: Niemand muss zurückgezogen feiern.
Vor der grossen Kerze im Treppenhaus des Hauses La Prairie ist sie schon einige Tage vor Weihnachten fast greifbar: die Vorfreude aufs grosse Fest. Neugierig wirft der eine oder andere Besucher des Hauses an der Sulgeneckstrasse einen Blick in die Küche, wo François Emmenegger, 70, gerade Rüebli rüstet. Hinter ihm türmen sich Lebkuchen auf, daneben steht eine Schale voller Baumnüsse. Emmenegger arbeitet seit fünf Jahren freiwillig in dem Haus mit, das Menschen aller Art fast täglich offensteht. An Heiligabend werden sich auch dieses Mal wieder zwischen 60 und 100 Menschen hier einfinden, um gemeinsam zu feiern. Manche kommen sogar von der Gasse aus hinein. Für das Haus- und Küchenteam ist die offene Weihnachtsfeier eine Herzensangelegenheit. Ein Dutzend Helfer und Musiker ist engagiert, wenige kommen extra für diesen Anlass, da sie sonst im Job eingespannt sind. «Einige holen die Feier dann am 25. nach», erklärt Emmenegger zum Fehlen der Freiwilligen am eigenen Familienfest.
Offen für alle
Das ganze Jahr über gibt es hier einen Mittagstisch, aber so ein Festessen ist doch etwas anderes. «Weihnachten ist immer spannend. Schon allein die vielen Teller, die wir eindecken müssen», lacht Emmenegger. Sozialer Status oder Ausbildung der Gäste sind für ihn unwichtig. «Wir fragen: Wer bist du anstatt was bist du? Nur der Name ist wichtig, alles andere ist ein Kennenlernen.» So kommen zum Weihnachtsessen auch viele Stammgäste. Egal, ob aus materieller oder emotionaler Armut. Längst nicht alle am Tisch könnten sich kein Festessen leisten, wollen es aber nicht alleine geniessen. «Es gibt auch die Armut der Seele», beschreibt es Emmenegger. Ihn persönlich bekümmert besonders die Einsamkeit vieler älterer Menschen, die nicht mehr mobil sind. «Das gibt es viel öfter, als wir denken.» Er ist froh um jeden, der in seiner Nachbarschaft achtsam ist – besonders an Weihachten. Schicksalsschläge, Alkoholismus, sozialer Abstieg, Krankheiten – all diese Probleme, die die Menschen im La Prairie sonst beschäftigen, sollen für einen Abend vergessen sein. Am 24. Dezember leitet die Helfer ein anderer Gedanke. «Maria und Joseph wurden einfach abgewiesen, egal wer sie waren, da war kein Platz», sagt Emmenegger. Das soll hier anders sein. «Den Leuten, die keinen haben, geben wir einen Platz.»
Gemeinsam statt einsam
Und dies tun auch viele andere Organisationen in Bern. Zahlreiche Kirchgemeinden veranstalten offene Weihnachtsfeiern, der Klassiker ist das Weihnachtsessen bei der Heilsarmee ab 18.30 Uhr. Wer an Heiligabend Anschluss sucht, wird ihn in Bern auch finden. Zahlreiche reformierte und katholische Kirchgemeinden wie Konolfingen oder St. Antonius in Bümpliz bieten offene Feiern an, viele mit Essen und Musik. In der Heiliggeistkirche findet um 16.30 Uhr ein klassisches Weihnachtskonzert statt. Der Verein für Alleinstehende «Berner Chötti» feiert ebenfalls den Heiligabend mit einem Dinner im Restaurant Federal und einem Fondue am 26. Dezember (beides auf Anmeldung). Wer offen ist, kann mithilfe der Organisation KKF auch Geflüchtete zum Essen zu sich nach Hause einladen. Die Aktion «Eating Together» feiert dieser Tage ihr fünfjähriges Jubiläum. Für ältere Menschen existiert ganzjährig ein Besuchsdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes Region Mittelland.
Miteinander feiern
Im La Prairie lebt der Weihnachtsabend von festen Traditionen: dekoriert wird immer erst kurz vorher, mit Weihnachtsbaum und Kerzen. Das Fest beginnt dann mit einer herzlichen Begrüssung und einem Apéro. Ein absolutes Highlight im Jahr. So schildert es auch eine der Besucherinnen im Haus, die anonym bleiben möchte. Sie erinnert sich an andere Jahre, in denen sie nicht in Gemeinschaft feiern konnte: «Dann wird es ja gar nicht Weihnachten.» Sie schätzt, dass alles für einen Abend hübsch herausgeputzt ist, an einer festlichen Tafel mit weissem Tischtuch Platz zu nehmen. Lächelnd erinnert sie sich an die letzte Feier: «Es war so festlich und gemütlich. Wir haben sogar zusammen gesungen.» Sie liebt die Lieder, die vom Licht erzählen, von der Wärme in der kalten Zeit. Um Materielles wie grosse Geschenke geht es ihr am Heiligabend nicht. Der überbordende Konsum und die Hektik in der Weihnachtszeit machten doch den Gedanken hinter dem Fest zunichte. «Für mich zählt das Zusammenkommen. Ich will einfach an diesem Abend nicht alleine sein.»
Gegen die Angst vorm Alleinsein
Aber warum ist gerade die Weihnachtszeit bei Alleinstehenden so gefürchtet? Helfer Francois Emmenegger sieht hier eine unausgesprochene Regel: «An den Festtagen hat man eine schöne Zeit – mit anderen zusammen.» Das, was einem etwas fehlt, werde nirgends im Jahr so deutlich wie am Fest der Liebe. «Wir sind alle darauf konditioniert: Das ist das Familienfest.» Neben dem christlichen Gehalt ist Weihnachten schliesslich als heile Zeit mit Lichtlein, Frieden und Stille verklärt. «Weihnachten berührt uns alle», fasst er zusammen und wendet sich wieder den Rübli zu. Bald ist alles bereit – das Fest kann kommen. Für alle.
Michèle Graf