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Wenn Christen mit Muslimen zum Hindu-Tempel ziehen

Besinnlicher Adventskranz? Nein, im Steigerhubel feiert man die Vorweihnachtszeit mit Trommeln, Tanz und Feuer. Beim traditionellen Lichterfest feiern verschiedene Religionen miteinander und schaffen so ein Leuchten in der Dunkelheit.

Zuerst hört man den Klang ihrer Trommeln, Muschelhörner und Glocken, dann leuchtet der Schein ihrer Kerzen und Fackeln in der Dunkelheit. Es ist eine ungewöhnliche Prozession, die da an einem Adventssonntag mitten durch das sonst so beschauliche Steigerhubel-Quartier zieht. Anwohnende treten verdutzt vor ihre Häuser und bewundern den Lichterzug, dem sich rund 80 Menschen angeschlossen haben. Kleine Mädchen tragen stolz ihre gebastelten Kerzengläser vor sich her, Teenager zündeln mit Wachsfackeln, Eltern und Grosseltern stimmen das Gospellied «This Little Light of Mine» an, Muslimas halten Teelichter. Alle sind Teil des interreligiösen Lichterfests, das Hinduisten, Christen, Juden, Muslime und Aleviten heute zusammen veranstalten. Der Grundgedanke: Nicht alle in der Schweiz feiern Weihnachten, aber in der dunklen Jahreszeit feiern viele Religionen das Licht als Symbol des Guten und des Lebens. Trotz aller Unterschiede kann man dieses Licht miteinander teilen. So hat auch Pfarrer Christian Walti von der reformierten Kirchgemeinde Frieden soeben seine Kerze am Leuchter seines hinduistischen Kollegen Sasikumar Tharmalingam entzündet. «Ein Lichterfest mit so vielen Religionsgemeinschaften ist in Europa einzigartig», erklärt Initiant Walti am Rande des Umzugs, der sich langsam vom Kirchgemeindehaus Steigerhubel Richtung Haus der Religionen am Europaplatz schlängelt. Neben ihm geniesst Oberpriester Tharmalingam die feierliche Prozession an diesem kalten Dezemberabend. Ein paar Minuten zuvor hat er die rauchenden Flammen den Menschen in einer Zeremonie präsentiert, sich ehrfürchtig mit dem Licht gedreht. «Im Hinduismus glauben wir, dass Gott immer als Licht erscheint», sagt Tharmalingam. In seiner Heimat Sri Lanka gibt es auch ein Fest, an dem man Häuser mit Beleuchtung schmückt. Der Lichterumzug heute freut ihn besonders: «Im Dezember haben wir eine Fastenzeit mit solchen Prozessionen – aber um drei Uhr nachts. Begleitet von Getrommel und Feuer wecken wir die Menschen dann zum Gebet.» Auf Geschenke wie an Weihnachten müssen hinduistische Kinder allerdings länger warten: Die gibt es erst am 14. Januar zum Erntedankfest. Oft reichlich, das Fest sei ähnlich überladen und kommerzialisiert wie das Weihnachtsfest hier. Doch Sasikumar Tharmalingam mag die Feiertage: «Die festliche Stimmung hier überträgt sich auch auf uns. Oft laden christliche Kollegen ein und wir geniessen die freie Zeit gemeinsam . » Er schätzt die Offenheit und religiöse Vielfalt der Schweiz, die vom Austausch lebt. «Wir wollen die anderen kennenlernen und spüren, auch deshalb sind wir heute beim Lichterfest dabei.»

Tamilische Tänzerinnen vor dem Weihnachtsbaum
Der feierliche Umzug ist nur das Highlight des Lichterfests. Schon den ganzen Nachmittag wuseln Kinder im Kirchgemeindehaus Steigerhubel herum: Es wird vorbereitet, geklebt und bemalt. Im grossen Saal läuft eine Kulturshow mit Licht- und Weihnachtsbeiträgen aus allen Traditionen. Gerade tritt Autor Michael Fehr von der Bühne. Die glockenhellen Stimmen des Chors des Schweizerischen Roten Kreuzes stimmen «Stille Nacht» in mehreren Sprachen an, singen auf Latein und ein Weihnachtslied aus der Ukraine. Mitorganisatorin und Sozialarbeiterin Barbara Berner steht derweil in der Küche und kocht Teewasser. Sie erzählt von den Anfängen des Fests 2018: «Die Idee kam uns durch meine Arbeit mit Frauen und Familien. Verschiedene fragten mich, ob man vor Weihnachten, in dieser Zeit des Lichts, nicht ein interreligiöses Fest machen könnte.» Walti und Berner waren sofort Feuer und Flamme für die Idee. Hier traf Publikum auf Gelegenheit, denn das Kirchgemeindehaus ist auch ein sozialer Quartiertreffpunkt. In der Spielgruppe sind Kinder aus unterschiedlichsten Kulturen und Religionen dabei. Frauenrunden finden hier einen sicheren Ort. Und Traditionen übertragen sich: «Eine geflüchtete Frau erzählte mir mal, dass sie einige Zeit in Griechenland war und den Tannenbaum kennenlernte. Diese Woche hat sie mir eine wunderbare Dekoration für eine Adventsfeier gebracht», sagt Berner und eilt weiter. Währenddessen zeigen grazile Tänzerinnen im Saal einen tamilischen Tanz – vor Weihnachtsbaum und Orgel. Gebannt lassen die Kinder am Basteltisch die Malstifte sinken, so etwas haben sie noch nie gesehen. Im Publikum sitzt Karma Yeshe Rabtentsang und lacht. Der Buddhist, der eine katholische Schule besucht hat, fühlt sich in der Schweiz mit all den Weihnachtstraditionen wohl. «Weihnachten ist die schönste Zeit des Jahres», findet er und geniesst im Advent die Lichter. An den Feiertagen trifft er gerne Freunde, die auch von ihm beschenkt werden. Dieses Stück christliche Kultur in sein Leben zu integrieren, macht ihm Spass. «Ich schmücke zuhause einen Baum und habe Lichterketten.» In seiner Religion gibt es ähnliche Festzeiten wie Weihnachten, an denen man Almosen gibt, pilgert und mit Lichter geschmückte Tempel besucht.

«Ohne Licht gäbe es nur Chaos»
Inzwischen hat die Stimmung im Saal gewechselt: Ein Saz-Spieler zaubert mit seinem Instrument nahöstliche Klänge. Er gehört der alevitischen Gemeinde an. Im Februar feiert diese den Heiligen Xizir. «Er ähnelt stark dem Nikolaus», sagt Özlem Duvarci, Co-Präsidentin des Förderverein Alevitische Kultur. In dieser Festzeit besucht man Gemeinde und Familie, isst zusammen und tauscht Geschenke aus. In der Cem-Zeremonie, dem Pendant zum christlichen Gottesdienst, gibt es dann einen speziellen Gebetstanz mit Lichtern. «Darin tanzen wir mit Kerzen in der Hand im Kreis. Jeder dreht sich und mit den anderen zusammen. Man gibt sich in das Grosse hinein und versucht, den göttlichen Kern zu entdecken. An einem interreligiösen Fest wie heute tanzen wir auch mit anderen, um die Harmonie zu finden. Die einen als Christen, die anderen als Aleviten und alle beten zusammen», erklärt Duvarci. Für sie persönlich symbolisiert Licht Klarheit, Hoffnung und auch das Göttliche. «Ohne Licht gäbe es nichts, nur Chaos. Wir glauben, dass jeder Menschen das Licht, das wir Gott nennen, in sich trägt.» Selbst wenn die Alevitin mit ihrer Familie kein Weihnachten feiert, findet sie die Adventszeit trotz mancher Hektik vor dem Fest schön: «Die Freude unserer Mitmenschen ist dann ansteckend.» Sie kennt alevitische Familien, die einen Baum kaufen und ihre Kinder beschenken, damit sie sich nicht abseits fühlen. Den übermässigen Konsum und den Kitsch rund um Weihnachten versteht sie weniger. «Geschenke machen nicht glücklich, sondern Geben und Zusammensein.»

Farbrausch im Tempel
Ob am jüdischen Chanukka-Fest, das unter anderem an ein wundersames Öllämpchen und an die Rückkehr des Lichts nach Krisen erinnert, an St. Martin oder am hinduistischen Diwali: Das Licht bringt die Menschen zusammen. Das bemerkt auch eine Mutter mit ihren zwei Kindern, die lächelnd im Umzug mitgeht: «Wir sind ganz ohne Erwartungen ans Fest gekommen. Uns gefällt es sehr, besonders die Tänze. Eine ganz andere Adventsfeier.» Vor dem Hindu-Tempel im Haus der Religionen begrüssen weit geöffnete Türen die Menge. Eine Feuerschale verbreitet davor einen wärmenden Schein. «Das Licht ist auch immer ein Zeichen des Friedens, den alle auf der Welt heute brauchen», sagt Pfarrer Walti zum Abschluss. Es duftet nach Chai-Tee, eifrige Helfer verteilen vegetarische Krapfen. Neugierig blicken die meisten ins helle Innere des Tempels, ein Farbrausch, es blinkt und leuchtet. Fast ein bisschen wie Weihnachten.

Michèle Graf

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