Blinde wohnen hier, aber nicht nur. Das B bietet Wohnraum für Menschen mit Behinderungen. Sandra Picceni gewährt Einblick in eine Welt, die normalerweise meist verborgen bleibt.
Treffpunkt KubUs. Sic! Ein kleines Aussengebäude aus Holz, Neufeldstrasse 95. KubUs steht für Kontakt unter besonderen Umständen. Zirka 16 Quadratmeter, Desinfektionsmittel, mobiler Radiator, zwei Tische. Dazwischen: eine grosse, gläserne Trennscheibe. Good Morning, Corona! Hier findet das Gespräch mit Sandra Picceni statt, die stellvertretende Leiterin des Gesamtbereichs Wohnen beim «B». Das B? Einige mögen die Institution wohl noch als Blindenheim Bern kennen. Heute ist es offiziell «das Kompetenzzentrum für blinde, sehbehinderte und mehrfachbeeinträchtigte erwachsene Menschen». Blinde finden ihren Weg hierher, aber auch Rollstuhlfahrerinnen oder Autisten. Sie sind auf der Suche nach geeignetem Wohnraum. Das B bietet ihn. «Wir prüfen ausnahmslos jede Anfrage, denn wir fokussieren uns nicht bloss auf eine Zielgruppe», sagt Picceni im kalten KubUs. «Sind beide Seiten der Meinung, dass die Person sich im B wohlfühlt, können wir verschiedene Wohnmöglichkeiten anbieten.» An der Neufeldstrasse bietet das B 51 Einzelzimmer, gegliedert in sieben Wohngruppen mit je acht oder neun Bewohnenden, an. Namentlich jüngere Leute, teilweise erst 18 Jahre alt, leben hier – eigentlich klassische WGs, nur mit etwas besonderen Vorzeichen. Hinzu kommen an diesem Standort 30 meist ältere Personen, die individuell wohnen. In der Überbauung Stöckacker-Süd leben zudem Menschen um die dreissig, die nur punktuell Unterstützung brauchen. Wer lacht, streitet auch Wer einmal eingezogen ist, bleibt häufig lange. Zwanzig, dreissig, fünfzig Jahre. «Wer möchte, kann sein ganzes Leben im B wohnen.» Manche benötigen indes, wie wir alle, nach einer gewissen Zeit einen Tapetenwechsel und ziehen um. Und der KubUs? Der Raum wurde errichtet, damit Bewohnerinnen und Bewohner Covid-19 zum Trotz ihre Angehörigen treffen können. Abgetrennt und ein wenig steril zwar, aber immerhin. Gleich nebenan übrigens ein weiterer, grösserer Raum – dort dürfen sich Familienmitglieder anfassen, nahekommen, in die Arme nehmen. Dieses Zimmer ist speziell für schwerer Beeinträchtigte gedacht, die nicht via Plexiglasscheibe kommunizieren können. Das Zusammenleben im Alltag beschreibt Picceni, 42 Jahre alt, als «spannend und dynamisch»: «Es ist wie in jeder WG auch: Man kann keinen Tag mit dem vorangegangenen vergleichen.» Was die Sozialpädagogin besonders schätzt, ist die Direktheit der Bewohnenden: «Sie tragen das Herz auf der Zunge. Deswegen ist es eine echte und ehrliche Arbeit.» Wer lacht und weint, streitet hin und wieder. «Natürlich gibt es ab und zu anstrengende Momente. Wenn acht unterschiedliche Menschen zusammenleben, ist die eine oder andere Krise kaum zu vermeiden.»
Was Corona ausgelöst hat
Corona hat die Situation vieler Menschen im B nicht eben vereinfacht. Während des ersten Lockdowns galt ein striktes Besuchsverbot, Angehörige durften ihre Liebsten nicht sehen. «Eine extreme Herausforderung», meint Sandra Picceni mit leicht gedrückter Stimme. «Jene, die die schwierigen Umstände kognitiv verarbeiten konnten, fragten sich, wieso zwar Menschen auf der Strasse rumliefen, sie selbst allerdings drinbleiben mussten.» Einzelne gerieten psychisch deshalb an ihre Grenzen und benötigten professionelle Hilfe. Andere wiederum blühten durch die Einschränkungen förmlich auf, zum Beispiel Personen mit Autismus. «Ihnen ging es wunderbar, sie genossen die neue Ruhe und Überschaubarkeit in den Zimmern und Gängen», sagt Picceni. Corona reisst die Gesellschaft entzwei – körperlich und seelisch. Das B war und ist einer der Orte, an dem diese Tragik deutlich sichtbar wurde. Dabei, und das betont Sandra Picceni im Gespräch mit dem Bärnerbär öfters, überwiegen im Zentrum doch Zufriedenheit, Heiterkeit und Lebensfreude. Und das nicht nur untereinander, sondern auch mit Aussenstehenden. Mit breitem Lächeln erzählt die Bernerin von der Bar8, ein Pop-up-Projekt auf der hauseigenen Dachterrasse, lanciert und umgesetzt (zusammen mit Blindspot, ein Verein zur Vielfaltsförderung, d. Red.) vor zwei Jahren in der warmen Jahreszeit. «Leute aus dem Quartier besuchten uns, tranken und assen etwas – es kam zu zahlreichen schönen Begegnungen.» Auch sonst versuchen die Mitarbeitenden des B, den Bewohnerinnen und Bewohnern möglichst viele angenehme Momente zu bescheren. Man organisiert KinoWochenenden, Discos, ausserdem stehen gemeinsame Ausflüge auf dem Programm; in der sogenannten Gartenhalle lädt ein Töggelikasten für den Plausch zwischendurch ein. Vielen Aktivitäten hat Covid-19 – vorübergehend – sprichwörtlich den Stecker gezogen, gleichzeitig wurden neue, digitale Wege gefunden, um miteinander zu kommunizieren Immerhin: Die heftigste Durststrecke scheint überstanden zu sein. Sowohl Angestellte wie Bewohnende haben vor einigen Tagen die erste Impfdosis erhalten. Personen mit Behinderung einen Platz in der Gesellschaft verschaffen – ein eigenes Zuhause macht einen wichtigen Teil davon aus. Das B bietet aber auch Arbeitsplätze für Menschen mit speziellem Unterstützungsbedarf an. Rund 200 sind es insgesamt, der grösste Standort befindet sich im Liebefeld. Veloräder werden eingespeicht, manche arbeiten in der Schreinerei, Logistik oder Wäscherei.
Strukturierter Tagesablauf
«Wir beschäftigen dort Menschen, die mindestens zu fünfzig Prozent IV-Rente beziehen», erklärt Sandra Picceni das System. Sie unterzeich- nen, ganz normal, einen Arbeitsvertrag und erhalten für ihre Leistungen Lohn. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Bewohnerinnen und Bewohner von der Neufeldstrasse. «Sie werden meist intern beschäftigt. Maximal zwei Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Nachmittag. Uns ist es sehr wichtig, dass alle, selbst jene mit schweren Mehrfachbeeinträchtigungen, in eine Struktur und somit in einen regelmässigen Tagesablauf eingebunden sind.» Den älteren Damen und Herren stehen solche Angebote ebenso offen – ähnlich jenen, die in einem Senioren-Wohnheim leben. Sandra Picceni wünscht sich, Begegnungen zu ermöglichen, um Leute zu vernetzen. So wie vor der Pandemie. Das öffentliche Bistro, sagt sie, sei am Mittag ein beliebter Treffpunkt von Bauarbeitern, Lehrerinnen und Bewohnenden gewesen. «Man grüsste, kannte und schätzte sich.» Diese Art von Austausch will sie, sobald es die Situation erlaubt, so schnell wie möglich wieder aufnehmen. «Der Mensch soll im Zentrum stehen, das ist das Wichtigste.»
Yves Schott